Die Dame, die den schmalen Weg zum Haus hinaufkam, hatte dieselben königsblauen Augen, wie Julian. Der Wind zupfte an ihrem dunklen Haar. Die vereinzelten silbrigen Strähnen darin rührten nicht vom Alter her, denn Julians Schwester war gerade einmal dreißig. Dominique Alessandrini-Casanera war eine beeindruckende Erscheinung, selbst nach ihrer Erkrankung. Sie war das älteste Kind des Königs und genau so aufrecht hielt sie sich. Finja sank als Kronrichterin nicht in einen Knicks, aber sie küsste die Hand der Edeldame.
„Justitia, entschuldigt mein unangekündigtes Eindringen."
Die Worte der Frau waren geschliffen wie Glasscherben in einem alten trägen Meer.
„Ihr seid willkommen, Hoheit", sagte Finja, obwohl jeder Widerhall der Absätze an den blauen Stiefeln, die ihr Gegenüber trug, ihr einen Schauer über den Rücke jagte. Es wurde nicht viel gesprochen über die Prinzessin, vor allem nicht wenn sie im Schatten von Julians Ankunft stand. Manche Menschen schienen vergessen zu haben, dass sie existierte, bevor sie am Tag nach Julians Ankunft das erste Mal seit ihrer eigenen Hochzeit wieder bei einer Hinrichtung auftauchte. Dabei war die Prinzessin in ihrem Wesen ebenso beeindruckend wie Julian. Nur hatte sie eine schwere Schwangerschaft und Jahre an Krankheit hinter sich, die nicht einmal das Königshaus gänzlich vor der Öffentlichkeit verstecken konnte. Eine solche Schwäche war etwas, das in ihren Kreisen nicht sanft geheilt wurde, nicht einmal bei Prinzessinnen. Sie wurde ausgebrannt, aus Stammbäumen und Geschichtsbüchern.
„Kann ich etwas anbieten?", fragte Finja. Sie hatte bemerkt, dass der stahlblaue Blick der Königstochter hinauf zu Galerie geflogen war. Einen Moment lang fürchtete sie, Cress Cye hätte diesen Moment gewählt, um vollständig von den Toten zurückzukehren, doch nicht einmal diese Ausgeburt der Schluchten kam so schnell auf die Beine.
„Mein Bruder sucht Euch häufig auf in der Zeit seit seiner Rückkehr."
Finja war gut darin, Gespräche zu ordnen und Aussagen zu kategorisieren. Aus dieser sprach etwas, das sie nicht erwartet hatte. Nicht von der Königstochter.
„Ja, das ist wahr", sagte sie unverbindlich. „Seine Hoheit findet die Stille trägt zu klareren Gedanken bei."
Nichts an Julians Gedanken war klar im Moment.
„Und was denkt er Schönes in Eurem Elternhaus, Justitia?", lächelte die Prinzessin. Finja antwortete nicht und die Prinzessin beendete ihre Orientierung in der Eingangshalle.
„Ich hatte gehofft, ihn persönlich anzutreffen, aber da habe ich mich wohl verschätzt."
Finjas Ruhepuls war so scharf in die Höhe geschossen, als hätte sie zum Sprint angesetzt, seit die Alessandrini-Casanera durch die Tür stolziert war. Es gab so viele Lücken in der Fassade, die sie hier aufrechterhielten. Angefangen bei der Abwesenheit der Dienstboten. Wahrscheinlich war es das, was Julians Schwester herführte. Dienstboten tratschten untereinander und all das Geld, das Finja an die Angestellten ausgezahlt hatte, war wohl nicht genug gewesen. Sie hätte es besser angestellt, wenn sie mehr Zeit gehabt hätte. Julian hatte es nicht interessiert, er war davon ausgegangen, dass niemand die Nase weit genug aus dem Palast stecken würde. Niemand Relevantes zumindest.
„Der Kronprinz kommt meist gegen Abend", schlug sie einen ausgesucht höflichen Ton an. „Würdet Ihr gerne auf ihn warten, Hoheit? Ich lasse Erfrischungen bringen."
Finja griff nach dem Glöckchen auf dem Beistelltisch, um nicht existenten Dienstboten zu klingeln, doch die Prinzessin lehnte ab. Was hatte sie wohl erwartet, fragte sich Finja, hier vorzufinden? Einen Skandal vermutlich und damit lag sie sicher nicht falsch. Eine Affäre ihres Bruders, die der Palast so kurz vor der sich anbahnenden Hochzeit nicht zu Gesicht bekommen sollte möglicherweise. Dominique taxierte Finja und ihr ging auf, dass es der logischste Schluss wäre, dass sie selbst diese Affäre war. Eine Kronrichterin und der Kronprinz. Keine schlechte Partie, aber eine sehr gefährliche, wenn man bereits eine Verlobte aus dem Hochadel hatte.
„Ihr wisst nichts darüber, was er hier tut?", fragte sie. „Ich frage aus reiner Sorge. Er wirkt abwesend."
Turbulente Zeiten, dachte Finja. Dominique war nicht nur aus ihrem Turm heruntergestiegen und das ohne ihr Kind, sie steckte Allianzen ab. Sie fühlte Finja auf den Zahn, vermutlich im Auftrag ihres Ehemanns. Also hatte der Herzog Wind davon bekommen, dass Julian sich hier aufhielt. Das würde ihm ganz und gar nicht gefallen.
„Ich möchte nicht die Diskretion brechen, die ich Eurem Bruder versprochen habe", wehrte sie ab. Wenn sie zu offensichtlich falsche Informationen anbot, würde Dominique es sofort riechen. Finja wusste, dass viele die Prinzessin abgeschrieben hatten, weil sie Mutter war, weil sie krank war. Doch bei dem Blick, den sie aufgesetzt hatte, wie eine Maske, tat man gut daran, sich zu erinnern, dass sie die gleichen Lehrer gehabt hatte wie Julian. Dass Florence Casanera und Astar Alessandrini zwei Kinder hatten.
„Ich möchte nicht neugierig sein, Justitia. Ihr wisst, dass ich verpflichtet bin, mich zu sorgen. Seit Wochen ist er zurück und hat mich noch nicht aufgesucht oder seinen Neffen begrüßt."
Das überraschte Finja. Sie war sich nicht sicher, ob Dominique log. Julian war niemand, der sich so fatale Schnitzer erlaubte. Sowohl was das Hofprotokoll anging, als auch seine Familie. Doch mit allem, was passiert war, konnte sie sich nicht sicher sein. Was war überhaupt noch sicher, wenn Julian alle Vorsicht in den Wind schlug und Dominique den Palast verließ?
Finja schüttelte den Kopf und musste ihre Verwunderung nicht spielen.
„Verzeiht die harschen Worte, aber das finde ich unerhört."
Dominique schlug die Augen nieder. Vielleicht war sie wirklich nur getroffen von Julians Abwesenheit. Schließlich hatte sie ein Kind bekommen, während er weg gewesen war. Finja fragte sich, ob sie zu schnell gewesen war, mit ihrer Verurteilung.
„Nun", sie beugte sich verschwörerisch vor. „Von dem, was ich beurteilen kann, arbeitet er viel. Die Sammlung meines Vaters ist beeindruckend, aber was er darin sucht, kann ich Euch nicht sagen. Außerdem habe ich ihn unten am Strand spazieren gehen gesehen."
„Alleine?"
„Ab und an."
Dominique nickte. Der Schmerz schien ehrlich. Sie war wirklich hier, weil Julian mehr Zeit auf der Insel einer befreundeten Familie verbrachte, als seiner eigenen die Ehre zu geben. Finja tat ihr bestes, um es nicht zu tun, aber sie empfand Mitleid mit der Prinzessin. Vor Jahren war sie einmal gefährlich, schön und geachtet gewesen wie René es nun war. Davon war nur noch eine Strenge übrig geblieben, die alles in ihrer Umgebung mit Missfallen strafte, ohne Autorität genug zu sein, um etwas daran zu ändern. Überall, wo sie war, wurde sie von ihren Hofdamen begleitet, die sie hasste. Dass sie es geschafft hatte sowohl diese als auch ihren Sohn hinter sich zu lassen, um hierher zu kommen, war eine große Leistung. Die beiden Frauen unterhielten sich lange, ohne dass sie sich hinsetzten. Dominique streifte durch den Raum, wie Julian es manchmal tat. Sie betrachtete die Blumen in den Vasen, die Finja aus dem Garten geholt hatte. Sie versteckte sofort ihre Hände in ihrem Rock bei dem Gedanken daran. Selbst wenn die Prinzessin nichts seltsames an der Stille des Hauses zu bemerken schien, so war Erde unter den Fingernägeln einer Kronrichterin eindeutig Anlass zur Sorge. Dominique blieb ungefähr eine halbe Stunde, bevor sie sich verabschiedete. Finja geleitete sie aus der Tür und hinunter zu ihrem Schiff. Erst als dieses abgehoben hatte und Richtung Palast verschwand, entspannte sie sich etwas. Selbst wenn Dominique vorhatte zurückzukommen, um ihren Bruder abzufangen, würde sie das erst in den nächsten Tagen tun. An diesem Abend fand ein großes Bankett im Schloss statt, zu dem alles was Rang und Namen hatte, eingeladen war. Es war einer der wenigen Momente, in denen sie dankbar war, für alles, was zwischen ihr und ihrem Vater geschehen war. Wäre sie die Tochter, die er gebraucht hätte, dann würde sie heute neben ihm sitzen. So, wie die Dinge lagen, würde es niemandem auffallen, wenn sie hier blieb. Nicht mehr als sonst, in jedem Fall. Der Arzt war im Haus und las Zeitung an ihrem Teetischchen im zweiten Stock. Julians Garde wachte über die Insel. Sie war hier. Niemand würde auch nur in die Nähe der Schlafenden kommen, nicht einmal der König selbst.
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...