60 - Arete Villa, Cress Schlafzimmer

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Es regnete, als sie zum ersten Mal erwachte. Dieses Mal war ihr Kopf klarer. Einen Moment lang verstand sie nicht, wie es gleichzeitig regnen und so sonnig sein konnte. Das Licht kam von einer Leselampe. Cress hob die Hand, um sich dagegen abzuschirmen. Das eigentlich bemerkenswerte war der Leser.

Julian hatte so viel Papier um sich herum liegen, als wäre es ihm gerade aus der Hand gefallen. Er laß irgendetwas in einer königsblauen Mappe. Sie sah ihm lange dabei zu und bekam Panik. Irgendwann warf er einen Blick in ihre Richtung, routiniert, als hätte er das immer in exakt dem gleichen Zeitabstand getan. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie zurückblicken würde. Cress erinnerte sich. Es ergab keinen Sinn, woran sie sich erinnerte, aber an ihn – ganz sicher.

Julian verschränkte seine Arme vor der Brust und musterte sie kritisch.
„Willkommen zurück", sagte er, aber es klang nicht besonders herzlich. Cress Kehle war so rau, dass sie kaum sprechen konnte. Geschweige denn schreien, weil sie gerade neben einem der gefürchtetsten Menschen der Welt aufgewacht war.
„Ich hoffe, du erinnerst dich nicht an alles. Du warst schwer verletzt, aber du wirst heilen."
Er sprach kaum lauter, als der Regen:
„Deine Knochen sind schon wieder provisorisch zusammengefügt worden. Es wird dauern, aber nicht annähernd so lange, wie es normalerweise der Fall wäre."

Cress Kopf drehte sich. Sie lag da und versuchte zu verarbeiten, was er ihr erzählte. Selbst in ihrem bedröppelten Zustand entging ihr nicht, dass er nicht sagte, welche Knochen gebrochen gewesen waren. Vielleicht, um sie nicht zu schockieren. Doch Cress war schockiert. Nicht Von dem Fakt, dass sie atmete. Sie hatte etwas überlebt, wovor alle Geister eine dumpfe allgegenwärtige Angst teilten: den Fall. Sie war in die Narben gestürzt. Brennend und ohne Fallschirm. Es gab wenige Dinge, die so eindeutig waren. Lange blieb sie stumm. Ihr ganzer Körper pochte. Sie kannte das Gefühl. Die Misstrauen erregende Abwesenheit von Schmerz. Was auch immer es für Drogen waren, die sie ihr gegeben hatten, sie wirkten.
„Was habt Ihr getan?", fragte sie heiser.
„Du weißt, was wir getan haben."
Cress bekam kaum noch Luft. Sie starrte an die Decke und fühlte mit einer gewissen Verwunderung, dass sie weinte. Julian beugte sich über sie. Sie hasste es, dass er da war und sie so sah, weil es ihm noch mehr Macht gab. Er sah sie nur an. Dann streckte er langsam eine Hand aus und griff nach etwas, das auf ihrer Brust lag. Es war klein, hing an einer Kette und schimmerte selbst im Licht der Leselampe. Cress hob eine Hand. Es war so anstrengend, dass ihr Blickfeld schrumpfte, aber sie musste den Kristall selbst halten. Musste ihn zwischen den Fingern spüren. An ihrer rechten Hand fehlten zwei Finger. Cress schloss sie trotzdem um den Stein und atmete zum ersten Mal, seit sie den Abstieg begonnen hatten, durch. Sie hatte ihre Erinnerung. Er hatte sein Wort gehalten. Julian legte seine Hand um ihre.
„Du dachtest nicht wirklich, dass du unter meiner Wache stirbst? Ich denke nicht."
Er drückte ihre Finger, ließ sie wieder los und zog sich auf seine Seite des Betts zurück.
„Kannst du schlafen, wenn ich hier bin?"
„Schlafen ist nicht das Problem", murmelte Cress, deren Augen schon wieder zu vielen. „Träumen ist das Problem."
Dunkelheit wartete an den Rändern ihres Gesichtsfelds, wartete darauf, sie wieder zu verschlucken. Cress fiel wieder in Schlaf mit derselben Unausweichlichkeit, mit der sie in die Narben gestürzt war.

„Wie ist dein Name?", fragte sie jemand. Ein Mann.
Cress Lippen waren zu schwer, um zu antworten.
„Kommen Sie später wieder."
Ein helles Licht erschien in Cress linkem Auge. Dann im Rechten.
„Erinnerst du dich an deinen Namen?", fragte jemand, den sie kannte. Wieder Schwärze.

„Cress", flüsterte jemand. „Cress, wach auf."
Blinzelnd tauchte sie auf. Ihr Kopf schmerzte höllisch. Dann wieder die Angst. Cress schoss senkrecht in die Höhe, kam dabei aber nicht weit. Sie kannte das Gesicht. Die Augen. Das letzte Mal, als er ihr so nahe gewesen war, hatte er sie kurz darauf k.o. geschlagen.
„Man kann dir die Erinnerung nicht zurückgeben", sagte Nicholas van Garde leise. Er wirkte angespannt und sah blitzschnell Richtung Tür.
„Verstehst du mich? Du kannst sie nicht zurückhaben. Das ist unmöglich."
„Verpiss dich", röchelte Cress.
„Wir wussten es nicht", beschwor sie van Garde. „Juli weiß es immer noch nicht. Aber du weißt es jetzt."
„Ver. Piss. Dich.", sagte Cress.
„Nico", kam eine Stimme von der Tür her. „Wir sprechen draußen."
Cress verschwand wieder in ihren Schatten.

Sie wachte auf, es war dunkel und jemand atmete neben ihr. Bevor sie wusste, wer es war, war sie wieder weg.

„Du hast mich angelogen", sagte sie zu Julian, als sie das nächste Mal voll bei Bewusstsein war.
Es waren Minuten oder Stunden vergangen, sie konnte es nicht sagen. Er thronte wieder auf dem Bett neben ihr, inzwischen lagen einige Briefe neben ihm. Sie waren frisch versiegelt und es roch noch nach dem Wachs, das er geschmolzen hatte, um seinen Ring hineinzupressen. Er war geblieben. Cress fühlte sich seltsam getröstet dadurch, dass er neben ihr saß und dort arbeitete, anstatt es irgendwo anders zu tun. Er war mit ihr bis unter das Gebiet der Eremiten in die Dunkelheit gestiegen. Wenn irgendjemand verstand, wie sie sich fühlte, dann leider er noch am ehesten. Er hatte mit dem Ring im Wachs innegehalten, als sie den Satz gesagt hatte.

„Ich wusste es nicht besser."
Er stritt es nicht ab.
„Ich kann sie nicht zurückhaben."
Er hob die Hände und rieb sich die Augen. Eine seltsam menschliche, erschöpfte Geste.
„Es ist nicht unmöglich, falls Nico das behauptet hat. Aber es ist nicht so einfach wie wir dachten. Weil es ganze Jahre an Erinnerung sind. Ich schwöre, ich wusste es nicht. Sie haben mir gesagt, dass es möglich ist. Die Protektorin der Flamme selbst war der Meinung."

Er wirkte zum ersten Mal verloren. Ratlos. Als hätte seine Macht ein abruptes Ende gefunden, als sie sich in die Domäne der Hohen begeben hatten. Das machte ihr Angst. Cress fühlte sich gebrochener als je zuvor in ihren Leben. Ihr Körper war kaum noch zu gebrauchen und die Hoffnung, die sie in sich getragen hatte, die Hoffnung auf eine eigene Geschichte, zerbrach. Die Herzdame, der Kreuzbube, niemand von ihnen hatte sie so endgültig gebrochen zurückgelassen. Sie weinte in ihr Kopfkissen, während Julian Alessandrini ihr über den Kopf strich. Sie hatte nicht einmal die Kraft, ihn wegzustoßen.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt