Durch ihre halbgeschlossenen Lider wirkte die Welt verschwommen, aber nicht unfreundlich. Sie war immer noch so erschöpft, dass sie kaum die Augen offenhalten konnte. Das widersprach allen Instinkten, allem, was die Schluchten ihr beigebracht hatten. Würde jetzt ein Cyborg durch die Tür brechen, wie in der Regennacht, in der sie das geflügelte Monster das erste Mal gesehen hatte, dann könnte sie sich nicht einmal schnell genug aufrichten. Cyborgs gab es hier nicht und die meisten Menschen, die bei klarem Verstand waren, mieden Räume, in denen sich der Kronprinz aufhielt. Cress hätte es auf jeden Fall getan, hätte sie eine Wahl gehabt. Zumindest vor all dem, was sich in den Narben ereignet hatte. Bevor sie gefallen war.
„Ich muss dir einige Dinge erzählen, die passiert sind."
Das machte sie wacher, als sie es in den letzten Tagen, vielleicht Wochen, gewesen war.
„Bist du bereit dafür?"
Er hatte seine Ärmel hochgekrempelt und schien sich nicht dafür zu interessieren, dass seine Uniformhose knitterte.
Er versuchte, es ihr zu erklären, aber sie war zu abgeschlagen.
Cress gab irgendwann auf und schloss die Augen. Sie war am Leben. Vor ein paar Tagen bis Wochen hätte sie noch geschworen, dass es ein Schicksal schlimmer als der Tod wäre, einem Adligen so ausgeliefert zu sein. Jedes Mal, wenn sie aufwachte und das gleiche Paar Augen beiläufig auf sie hinunterblickte, fühlte sie sich unruhig, aber aus irgendeinem Grund auch behütet. Als hätte ein großer Greifvogel Mitleid mit ihr bekommen und widerwillig einen Flügel über ihr ausgebreitet.
„Passt Ihr persönlich auf mich auf, weil ich Euch das Leben gerettet habe?", fragte sie.
Julian blinzelte sie irritiert an.
„Bei welcher Gelegenheit?"
„Ich habe die Schotten geöffnet."
Er legte seinen Stift weg. Er sah so ehrlich geschockt aus, dass es unfreiwillig komisch gewesen wäre. Wenn er nicht er wäre.
„Das ist nicht dein Ernst."
„Und bereut habe ich es auch schon wieder. Aber immerhin ... habe ich mir jetzt Euren Respekt verdient?", fragte sie ihn und rutschte zurück in die Höflichkeitsformel. „Passt Ihr deshalb persönlich auf mich auf?"
„Du musstest dir meinen Respekt nicht verdienen, Icara. Den hattest du, seit du mit gebrochenem Knöchel durch den See geschwommen bist nach deinem Absturz. Schlaf, lass uns morgen weiterreden."
Sie würde sich nicht wehren, dafür war die Idee von Schlaf zu verlockend.
„Ihr sollt schlafen", rügte er nach einiger Zeit, in der sie mit offenen Augen an die Decke gestarrt hatte, ohne einen weiteren Gedanken zu fassen zu bekommen. Er war aufgestanden und Richtung Tür gewandert in der Zwischenzeit, als Cress plötzlich blinzelte und sich an etwas erinnerte. Es war ein Fragment, dass ihr durch den Kopf gespukt war und das sie nun endlich zu fassen bekam. Sie stützte sich unter großer Anstrengung auf die Ellenbogen.
„Kommt zurück."
Er trat zurück in den Raum.
„Euer Handgelenk."
Sie wusste nicht, ob ihr Verstand ihr einen Streich spielte. Etwas anderes konnte sie sich kaum vorstellen. „Was habt Ihr am Handgelenk?"
Julians Gesichtsausdruck verschloss sich. Seine Finger trommelten auf den Türrahmen, während er darüber nachdachte, was er ihr antworten sollte. Ungewohnt lange.
„Ich hole mir ein weiteres Kissen, Cress Cye. Wenn du dann noch wach bist, erzähle ich es dir."
Sie hatte es nicht geschafft, bis er wieder da war. Doch als Cress das nächste Mal wach wurde, hatte sie es nicht vergessen. Sie hatte es immer wieder aufgesagt, während sie weggedöst war. Sie hatte sich gesagt, dass sie es auf keinen Fall vergessen durfte. Cress nahm all ihre Kraft zusammen und griff nach seiner Hand, während er irgendein Dokument unterschrieb. Der teure Füller rutschte ab und verteilte Tinte und Papier auf dem Bettzeug. Julian zuckte nicht mit der Wimper, obwohl er offensichtlich nicht damit gerechnet hatte. Cress hatte gedacht, dass sie wieder voll bei sich war, aber jetzt wo sie die Hand des Kronprinzen gestohlen hatte und dabei erwischt worden war, hatte sie da ihre Zweifel. Außerdem war es die falsche Hand.
„Ja?", fragte Julian.
Sie war zwar eingeschlafen, aber sie hatte nicht vergessen, was sie gesehen hatte. Schon beim ersten Mal, als sie wach geworden war. Als ihr Bewusstsein noch in den Narben hing, hatte ihr Verstand das Detail unterbewusst katalogisiert. Sie sah auf sein Handgelenk hinunter, aber bis auf bläuliche Venen war nichts zu sehen. Er reichte ihr die andere Hand, drehte sie und offenbarte das, was sie gesucht hatte. Cress ließ ihn los. Etwas in ihrer Brust stolperte, ihre Ohren rauschten und dann wurde ihr schwarz vor Augen.
„Du hast mein Tattoo", flüsterte sie das nächste Mal, als sie auftauchte. Die Welt schien nun stabiler, die Farben flossen weniger ineinander. Sie bemerkte nicht, dass er schlief, bis sie den Kopf wandte. Julian war mit der Wange auf einer Seite bedrucktem Papier eingeschlafen. Er hatte die Arme vor sich abgeknickt und sich zusammengerollt, wie ein Kind. Es irritierte sie so sehr, dass sie sogar den Vogel vergaß. Er sah selbst im Schlaf aus, als würde er schwierige Gleichungen im Kopf lösen, aber mit geschlossenen Augen war er weniger bedrohlich. Sein Körper war der gleiche, aber diese Intelligenz, die Menschen innerhalb kürzester Zeit durchblickte, sah einen nicht mehr an. Cress hatte ihn noch nie so genau angesehen, fiel ihr auf. Eingeschüchtert war sie gewesen, war sie immer noch. Den Gildenoberhäuptern sah man am besten nicht lange in die Augen und mit Kronprinzen sollte man es ähnlich halten wie mit den ehrlichen Verbrechern. Zumindest sah Cress das so. Wie schlimm es wohl um sie stand, wenn er sich sicher genug fühlte, um hier ein Nickerchen zu machen? Sie beschloss, dass sie es nicht wissen wollte und schloss wieder die Augen, dieses Mal absichtlich.
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Ciencia FicciónIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...