Kapitel 17: Blutsbande

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Es dauerte eine ganze Weile, bis Lyanna auf einmal schwere Schritte hörte. Aus Angst, das Geschehene könne sich wiederholen, versuchte sie, sich zu verstecken, doch die Schritte kamen immer näher und näher.

"Ist gut, großer Vogel. Ich bringe Euch zurück in Euren Käfig", sprach Sandor Clegane mit sanfter Stimme.

So, wie er Lyanna vorfand, hätte sich jeder denken können, was passiert war. Sie saß zusammengekauert in einer Ecke, die Beine so weit angezogen, wie ihr Bauch es ihr erlaubte. Mit den Händen versuchte sie, ihr Kleid zuzuhalten, das von oben bis unten völlig aufgerissen war. Ihr Unterhemd wurde nur mehr durch ihr Mieder gehalten und in ihren zerzausten Haaren steckten Strohhalme. Sandor gab Lyanna seinen Umhang, womit sie sich etwas besser bedecken konnte, bevor er ihr die Hand reichte, um Lyanna wieder auf die Beine zu verhelfen.

"Ist er noch in der Nähe?", fragte Sandor sicherheitshalber.

-"Nein, sie sind schon weg", antwortete Lyanna ihm mit zittriger Stimme, während sie ihm wieder durch die engen Gänge und Gassen folgte. Die Münze ließ sie dabei zurück.

Je weiter man sich von dem Lagerraum entfernte, desto lauter wurden die Geräusche der noch immer tobenden Menge. Am Ende des Weges, wo dieser auf eine der größeren Straßen von Königsmund führte, hielt Sandor Clegane kurz Inne. Mit seiner rechten Hand zog er sein Schwert und mit dem linken Arm umarmte er Lyanna, sodass er nicht nur sie, sondern auch ihr Ungeborenes vor Schlägen, Stichen oder Hieben schützen konnte. Er führte Lyanna die Straße entlang, wobei sie immer wieder über Tote steigen mussten, oder Sandor Clegane gegen wütende Menschen kämpfen musste. Obwohl es eigentlich nur wenige Minuten dauerte, kam es Lyanna wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich das Tor des Roten Bergfrieds erreichten.

Sandor Clegane brachte Lyanna bis in ihre Gemächer, wo sie bereits von Shae und Sansa sehnsüchtig erwartet wurde. Er sagte kein Wort, als Lyanna ihm den Umhang wiedergab und ihm für ihre Rettung dankte. Stattdessen ging er schweigend wieder. Als Shae die Schnürung des Mieders öffnete, rutschte Lyanna abgesehen von den Strümpfen, die ihr bis zu den Knien gingen und dort mit Bändern befestigt waren, die gesamte Kleidung vom Leib. Während Shae den zerfetzten Stoff im Feuer verbrannte und Lyanna dann mit einem nassen Tuch abwusch, zupfte Sansa das Stroh aus den Haaren und kämmte es vorsichtig. Dabei blieb der Kamm immer wieder in kleinen Knötchen stecken, deren Entwirrung bei Lyanna beinahe die Tränen fließen ließen. Als Lyanna dann schlussendlich wieder halbwegs präsentabel aussah, fragte Sansa sie, ob Großmaester Pycelle sie nicht untersuchen solle, nur um sicher zu stellen, dass weder sie noch das Kind einen ernsthaften Schaden davongetragen hätten. Lyanna verneinte und Shae stimmte ihr zu, denn sie schämte sich, für das was passiert war und sie wollte nicht, dass es noch jemand außer ihr, Sansa, Shae, Sandor und den vier Männern davon wüsste. Lyanna wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen, sie wollte einfach nur mehr zu Bett gehen und vergessen.

Bei jedem Versuch einzuschlafen, stieß Lyanna auf ein Problem, denn sobald sie die Augen schloss, sah sie die Gesichter der vier Männer vor ihr. Sie sah sie so deutlich, dass sie sie hätte zeichnen können. Sie sah jedes Merkmal direkt vor sich, als würden die Männer in Fleisch und Blut wieder vor ihr stehen.

Der älteste von ihnen hatte bereits Falten im Gesicht. Sein Haar war kurz und grau und unordentlich. Seine Hände waren groß und rissig. Er hatte braune Augen, die recht nahe zu seiner breiten Nase standen.

Der eine trug einen buschigen Bart, der seinen rauen, wettergegerbten Gesichtszügen einen wilden Ausdruck verlieh. Sein Hemd war alt und zerschlissen, mit zahlreichen Löchern, die mühevoll mit verschiedenfarbigen Flicken gestopft worden waren. Eine auffällige Narbe begann über seiner rechten Augenbraue, teilte diese in zwei Hälften und zog sich bis zu seinem rechten Ohr hinunter. Seine Augen waren dunkel und durchdringend, und er hatte eine leicht gebeugte Haltung, als wäre er ständig auf der Hut.

Der dritte hatte ein markantes Gesicht mit klaren, kantigen Zügen. Sein dunkelblondes Haar war in unordentlichen Strähnen über seine Stirn gefallen, und seine blaugrauen Augen funkelten. Seine Nase und Wangen waren mit Sommersprossen übersät. Er war der Einzige, der kein Hemd trug, wodurch man ein auffälliges Muttermal von der Größe einer Beere auf seinen linken Rippen sehen konnte.

Der letzte Mann hatte ein bereits blutunterlaufenes Auge, das ihm einen noch aggressiveren Ausdruck verlieh. Sein Kopf war vollständig kahl, was seine abstehenden Ohren noch deutlicher hervorhob. Seine Lippen waren dünn und fest zusammengepresst, und bei jedem Sprechen fehlten mehrere Zähne, was seinen Worten einen scharfen Klang verlieh. Seine Haut war blass und schien nie richtig zu bräunen, was ihn im Vergleich zu den anderen noch kränklicher erscheinen ließ.

So sah sie Lyanna vor sich, wie Geister, die sie verfolgen würden, bis zu ihrem oder deren Tod, denn das schwor sie sich: Würde sie die Männer noch einmal sehen, würden sie spüren, dass der Norden sich erinnert. Und auch Lyanna würde sich an sie erinnern, an die Augen, die Narbe, das Muttermal und die Glatze mit den abstehenden Ohren. Nach mehreren Versuchen schlief sie irgendwann endlich ein.

Frühmorgens wurde sie von hektischen Bewegungen geweckt. Sie sah um sich und bemerkte, dass Sansa erschrocken neben dem Bett stand. Sofort war Lyanna hellwach und fragte nach dem Grund der Aufregung. Sansa zeigte wortlos auf ihre Seite des Bettes, wo sich ein mehr als faustgroßer Blutfleck gebildet hatte, genauso wie auf Sansas Nachthemd, denn während der Nacht bekam sie zum ersten Mal ihre Blutungen. In dem Wissen, dass das bedeuten würde, dass Sansa Joffrey jetzt Kinder schenken könnte und sie ihn deshalb bald heiraten müsse, mussten sich die Schwestern schnell überlegen, wie sie das Blut verschwinden lassen könnten. Dabei hatte Lyanna eine Idee. Sie und Sansa zogen beide ihre Nachthemden aus und zogen das der jeweils anderen wieder an, doch während sie gerade dabei waren, ihren Plan auszuführen, kam jemand durch die Tür. Den Göttern sei gedankt, dass es nur Shae war, die den Schwestern bei ihrer List half. Sie gab Sansa ein Tuch, um sich das Blut zwischen den Schenkeln wegzuwischen und bastelte ihr eine provisorische Periodenhose, in der ein mehrfach zusammengefalteter Lappen das Blut auffangen sollte. Kurz nachdem sie diese angezogen hatte, kam noch jemand in das Gemach der Schwestern.

Es war eine Zofe, die im Roten Bergfried für die Lannisters und damit für Cersei arbeitete.

"Schnell. Hol den Maester, Lady Lyanna blutet. Geh!", schickte Shae sie weg, um Sansas Geheimnis zu bewahren.

Um Shae genug Zeit zu verschaffen, den blutigen Lappen im Feuer zu verbrennen und Sansa anzukleiden, damit ihr Untergewand nicht zu sehr auffiel, spielte Lyanna mit. Sogar als Großmaester Pycelle sie mit seinen schrumpeligen Fingern unter der Aufsicht von Cersei selbst untersuchte, hielt sie an der Geschichte fest, es sei ihr Blut gewesen. Angesichts der Tatsache, dass sich die Schwestern das Bett teilten, war somit auch der Fleck auf der Matratze zu erklären. Aus Sorge um das ungeborene Kind, das Lyanna in sich trug, verordnete der Maester daraufhin bis zur Geburt Bettruhe, die Sansa als Ausrede verwenden konnte, um sich von diversen Aktivitäten zu entschuldigen und so ihre Monatsblutung geheim zu halten.

The Red Wolf of the NorthWo Geschichten leben. Entdecke jetzt