Kapitel 4

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Als ich schließlich am Ende der Woche in meinem Zimmer sitze und keinerlei andere Einflüsse habe, kreisen meine Gedanken nur so um unsere Tutorin; die blonden Haare, die grünen Augen, die sportliche Figur, ihre zuvorkommende Art, ihr Mitgefühl. Alles an ihr fasziniert mich und verfolgt mich nun schon seit Tagen bis in meine Träume, wodurch mein Herz ganz andere Frequenzen annimmt und mein Wunsch nach ihrer Nähe stetig wächst. Sie hat -durch eigene Erfahrungen- Verständnis für mich und meine Aggressionsprobleme, was für eine starke und vertrauensvolle Verbindung meinerseits geführt hat. Trotzdem wühlt mich all dies buchstäblich auf. Ich finde auf keine Frage eine Antwort und bin völlig überrumpelt von all den Einflüssen, die durch sie auf mich einschlagen, wodurch sich von mal zu mal eine immense Anspannung in mir ausbreitet, die mich in völlige Extase bringt. Ich könnte ihr schreiben, wie sie es mir vorgeschlagen hat. Nein, das würde genau das Gegenteil  bewirken. Sie würde nur noch mehr Platz in meinem Kopf einnehmen. Schlagartig springe ich auf, ziehe mir meine Sportklamotten an und gehe aus dem Haus, ohne meinen Eltern Bescheid zu geben. Das was ich jetzt brauche, ist völlige Erschöpfung.

Durch meine Kopfhörer strömt Musik, die ich nur ganz beiläufig registriere, da ich schon nach guten zehn Kilometern einen leergefegten Kopf habe. Dennoch laufe ich weiter, werde sogar noch schneller und versuche dabei nicht nur meinen Gedanken davonzulaufen, sondern auch all den Gefühlen, die mir neu sind und mich aufwühlen. Meine Lunge sowie meine Beine brennen, doch auch das bewegt mich nicht zum aufhören. Zu laut sind die Stimmen in meinem Kopf, die zum Glück nicht ganz zu mir durchdringen. Und trotzdem weiß ich, dass diese sich weiterhin nur um Frau Smith drehen und das sorgt erneut dafür, dass Wut in mir aufsteigt. Ehe ich mich versehe, schlage ich gegen die nächst beste Steinmauer und verspüre einen Schmerz, gefolgt von Erleichterung. Ich atme mehrere Male tief durch und stelle befriedigend fest, dass die Anspannung nun endlich von mir abgefallen ist und Ruhe in mir einkehrt.

„Hey Spatz, wieso hast du uns denn nicht Bescheid gegeben, dass du Laufen gehst?", fragt mich meine Mutter bereits als ich die Tür reinkomme. Die Sorge steht ihr regelrecht ins Gesicht geschrieben. „Was ist los?" „Nichts, wieso?", beantworte ich lediglich letztere Frage und vergesse ganz meine schmerzende Faust, die meine Mutter nun in ihre Hand nimmt und besorgt streicht. „Hattest du wieder einen Aggressionsanfall?", fragt sie nun und kann ihre brüchige Stimme dabei nicht verstellen, was mir einen Stich und anschließenden Scham bereitet. Meine Mutter zieht mich in ihren Arm, streicht sanft über meinen Rücken und sorgt durch diese Geste dafür, dass sich Tränen einen Weg über meine Wange bahnen und garnicht mehr aufhören wollen. Was ist nur los mit mir? „Ganz ruhig." Leichter gesagt als getan, da mich diese Situation vollkommen überfordert. Nicht nur die Tatsache, dass ich erneut einen Wutausbruch hatte, sondern auch das Zeigen meiner Gefühle meiner Mutter gegenüber. Wann hat sie mich das letzte mal weinen sehen? Als Kleinkind vielleicht? „Ich gehe wieder in Therapie.", schluchze ich, worauf diese erstmal nicht eingeht; verständlich. Stattdessen wiegt sie mich vorsichtig und ist lediglich für mich da, was mir für den Moment reicht, um mich allmählich wieder zu fangen. Ich löse mich also und schaue sie an, was sie mir gleichtut. „Das war jetzt der zweite Ausbruch innerhalb einer Woche.", stelle ich fest und fahre fort: „Es fängt wieder an." Meine Stimme ist weiterhin hörbar belegt, was aber gerade nicht zu stören scheint. „Ich werde Dr. Kurt benachrichtigen und eine erneute Aufnahme in der Praxis bitten. Wenn du in der Zwischenzeit mit sämtlichen Emotionen zu kämpfen hast, wende dich bitte an deinen Vater, mich oder sonst wem, aber du musst dich mitteilen.", kommt es nun von meiner Mutter, dieser ich nickend zustimme. Keinesfalls möchte ich, dass es wieder überhand nimmt oder mich gar kontrolliert.

Am Montagmorgen mache ich mich ohne Umschweife gleich auf den Weg zu Frau Smith, um sie bezüglich Therapie zu informieren und merke dabei erneut, wie sich mein Herzschlag mit jedem Schritt beschleunigt. Dennoch klopfe ich an die Tür des Klassenraums und trete nach einem überraschten „Herein" ein. Sofort schleicht sich das bekannte Lächeln auf das Gesicht meiner Tutorin, was ich selbstverständlich erwidere. „Schön dich zu sehen.", kommt es von meinem Gegenüber. „Ja, ehm.. Ich werde die Therapie wieder aufnehmen.", verkünde ich einfach, da ich auf ihren Kommentar nicht zu antworten weiß. Was sollte ich auch sagen? „Du weißt ja bereits, dass ich diese Entscheidung richtige finde. Wie kam es dazu?" Angestrengt überlege ich mir, was ich sagen könnte, entscheide mich aber für die einfache Wahrheit: „Ich hatte am Wochenende wieder einen Wutausbruch. Diese werden scheinbar wieder regelmäßiger und das in Windeseile, weshalb eine Behandlung nun wahrscheinlich die beste Chance auf ein baldiges Ende ist." Frau Smith nickt und klappt nun das Buch, in welches sie vor meinem Eintreten gelesen hatte, auf Seite und spricht: „Ein Ende vermutlich nicht, aber die Kontrolle wird dir wieder einfacher fallen und damit die Intensität gedämmt. Ich finde es aufjedenfall sehr stark von dir, dass du die Hilfe nun erneut zulassen möchtest. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das einer der schwersten Schritte ist und bin daher sehr stolz auf dich." Durch diese Worte lässt sich mein schneller Herzschlag nicht mehr länger ignorieren, weshalb ich meine Lehrerin einfach anlächle und ein kurzes „Danke" über meine Lippen kommt. „Du brauchst dich für nichts bedanken. Ich habe dir gesagt, dass ich gerne für dich da wäre und dabei meine eigenen Erfahrungen mit dir teile, wenn es sinnvoll ist. Daher gilt auch weiterhin das Angebot, dich bei mir zu melden, wenn du über etwas reden möchtest und dafür muss es nicht zwingend eine akute Situation sein. Schließlich weiß ich, dass manchmal auch die eigenen Gedanken zu viel werden können." Wie schafft es diese Frau, mich scheinbar wie ein offenes Buch zu lesen? Jedes einzelne Wort ihrerseits hilft mir und bringt mein Herz zum springen. „Ich möchte mich aber bedanken, weil es nicht selbstverständlich für mich ist. Mir kann jeder sagen, dass ich verstanden werde, aber bei Ihnen glaube ich es und kann mich dadurch auch auf ihre Worte einlassen. Sie haben es selbst erlebt und fühlen daher mit, was unbezahlbar für mich ist. Also danke!" Nun schenkt mir Frau Smith erneut ein aufrichtiges Lächeln, wodurch ihre kleinen Lachfalten nun zum ersten Mal sichtbare werden und sie noch viel schöner wirken lassen. Jedes noch so kleine Detail an ihr fasziniert mich. Wie kann ein Mensch nur so perfekt sein?

„Ich werde wieder zur Therapie gehen.", teile ich später am Tag auch Olivia mit, die mich überrascht anschaut. Schließlich hatte ich ihr nichts von diesen Überlegungen erzählt. „Ich habe wieder Probleme, meine Wut zu kontrollieren und möchte dem, so schnell wie möglich, entgegenwirken.", erläutere ich und stoße auf Verständnis: „Das ist wirklich gut." Seitens Olivia reicht mir das als Reaktion, da vorallem sie viel von meiner Wut abbekommen hat und buchstäblich mit mir daran gelitten hat. Trotzdem stand sie immer hinter mir, hat mich trotz allem nicht alleine gelassen und war mit mir zusammen stark. Und das, obwohl ich sie habe leiden lassen. Sie hat mir oft gesagt, dass ich Hilfe bräuchte und sie auch langsam an ihre Grenzen kommt. Aber sie hat sich niemals von mir abgewandt. Sie hat jede Beleidigung, jeden Schlag eingesteckt und ihre eigenen Gefühle beiseite gelassen, um mir eine gute Freundin zu sein. Von Anfang an stand sie hinter mir, ist mit zu Therapiesitzungen gekommen und hat meine Hand gehalten, auch wenn sie selbst darunter gelitten hat. Obwohl wir uns lieben und geschworen haben, immer füreinander da zu sein, würde sie es kein zweites Mal mitmachen. Verständlicherweise. Umso wichtiger ist es, dass es nicht wieder so akut wird und ich früh genug daran arbeite. „Ich bin für dich da und unterstütze dich bei jeder Entscheidung." Anstatt etwas darauf zu erwidern, nehmen ich meine beste Freundin einfach in den Arm und zeige ihr damit, wie froh ich über ihre Anwesenheit in meinem Leben bin. Sie erwidert meine Umarmung und zeigt somit auch mir, was unsere Freundschaft ausmacht. Ich kann vielleicht nicht mehr mit ihr darüber reden, wie ich mich bezüglich meiner Wut fühle, aber immerhin habe ich sie an meiner Seite und könnte mir keine bessere Freundin vorstellen. „Wir zwei gegen den Rest der Welt...", sagt sie nun unser langjähriges Versprechen auf, was nun meine Augen glasig werden lässt: „....in guten und schlechten Zeiten", vervollständige ich und lege meinen Kopf auf ihrer Schulter ab. Ich atme tief ein und genieße diesen außergewöhnlichen Moment, da Olivia meistens nur wenig Körperkontakt zulässt und könnte gerade nicht glücklicher sein.

Als ich am Nachmittag wieder zuhause bin, verändert sich mein Gemütszustand schlagartig und ich versinke erneut in meinen eigenen Gedanken. Mich packen Erinnerung, in denen ich beinahe die Kontrolle über mich und mein Handeln verloren habe. Die Zeit, in der meine Aggressionsprobleme dafür gesorgt haben, dass ich nicht mehr Leben wollte. Eine Tatsache, die ich nie jemandem erzählt habe und auch nie erzählen könnte. Wenn ich genau drüber nachdenke, dann habe ich aufgehört mich zu lieben als die Aggressionen begonnen haben. All meine Taten sowie Worte lassen mich Scham für mich selbst empfinden und haben letztlich dafür gesorgt, dass ich mich selbst verachtet habe und das nun dieser Teil von mir zurückkehrt, sorgt für immense Angst. Ich habe Angst, dass ich wieder die Menschen verletzte, die mich lieben und mir lediglich helfen wollen. Und nun zählt auch Frau Smith dazu, die ich eigentlich garnicht verletzten möchte. Allerdings ist sie mir in kürzester Zeit sympathisch geworden und hat mir schon jetzt sehr geholfen, wodurch sie zu einem Teil meines Lebens geworden ist. Wieso habe ich das also nicht verhindert? Zwar wusste ich nicht, dass es wieder so weit kommen würde und dennoch wäre es besser gewesen, es in Erwägung zu ziehen und mich ihr nicht zu offenbaren. Ich hätte die Wut an dem Tag für eine einmalige Angelegenheit abtun können. Stattdessen habe ich ihr solch einen zerbrechlichen Teil an mir offenbart.

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