Der Andere

10 2 0
                                    


Vor einigen Jahrhunderten lebte in den sehr hohen Bergen ein Volk zweibeiniger Giganten.
Die Mitglieder hatten verschiedene Farben: unter Anderem rot, blau, rosa, gelb. Anhand dieser hatten alle ihre Aufgaben und Pflichten, zur Gemeinschaft beizutragen.

Jeden Morgen nach dem Aufstehen nahm jede Gruppe für sich ein erstes Mahl ein, bevor man frisch ans Werk ging. Jeden Tag, wenn die Sonne am höchsten stand, versammelten sich alle, um gemeinsam warme Mahlzeiten zu speisen, die mit viel Herzblut und Mühe von den roten Riesen kredenzt wurden. Nach einer einstündigen Rast zum Verdauen des Essens schritt man zum letzten und kürzeren Teil des Werks. Nachdem dieses vollbracht war, passierte stets etwas Interessantes: die Giganten färbten sich alle grün und ihre ursprüngliche Farbe verlor komplett an Bedeutung. Alle gingen ihren sozialen Bedürfnissen nach, verbrachten die Zeit komplett unbeschwert, bis das Sonnenlicht erloschen war. Morgens nach dem Aufstehen hatten alle Giganten wieder ihre gewohnte Farbe.

Jedoch gab es einen Riesen, für den offenbar etwas anderes vorgesehen war. Alle Giganten einer bestimmten Farbe wohnten in einem dazu passenden Haus. Jedoch änderte sich die Farbe „des Anderen" vollkommen unkontrolliert. Er wurde zwar Mittags mitversorgt, war jedoch ausgeschlossen von der Möglichkeit, in einem Haus zu wohnen, den sozialen Ereignissen des Abends beizuwohnen sowie ein Werk zu vollbringen. Er wusste nicht, wie er in dieser Gemeinschaft gestrandet war, aber er kannte nichts anderes.

Meist war er apathisch, manchmal aber auch von tiefster Trauer und Einsamkeit geplagt.
So sehr er wollte, er konnte nie so recht ein Teil des Ganzen werden. Durfte er doch mal mithelfen, so misslang ihm das Werk oder er musste sich hänseln und schikanieren lassen. Das führte dann zu noch mehr Frustration des „Anderen", der sich in seinem gesamten bisherigen Leben wie das fünfte Rad am Wagen fühlte. Der geborene Verlierer war er, es gab keinerlei Perspektive.

Eines Tages beschloss er, auf Reise zu gehen. Ihm war komplett gleichgültig, wohin ihn die Füße trugen, Hauptsache, ganz weit weg von hier. Was hatte er noch zu verlieren? Er beschloss eines Mittags nach dem Essen das, was er sein Hab und Gut nannte, zu nehmen und der Gemeinschaft, die ihn ohnehin nicht akzeptierte, ein für alle Mal den Rücken zuzuwenden und niemals wieder dort in Erscheinung zu treten.

Er hatte es sein gesamtes Leben lang versucht, sich zu integrieren, was kein einziges Mal von Erfolg gekrönt war. Deshalb fiel ihm der Abschied sehr leicht. Jedoch fiel es einer grauen Riesendame auf, dass „der Andere" sich auf eine Reise mit ungewissem Ziel begab und folgte ihm. Als der Riese eine Pause machen wollte, holte die graue Riesin schließlich auf und hatte die Gelegenheit, ein Gespräch zu suchen.

Sie grüßte freundlich, aber sichtlich auch etwas schwermütig. Danach sprach sie die folgenschweren Sätze: „Ich wusste schon immer, dass es deine Bestimmung ist, auf einem anderen Pfad zu wandern als wir es tun und dass du uns wirst verlassen müssen. Bitte akzeptiere dieses kleine Geschenk und sehe es als meinen Segen an dich, es soll dir Glück bringen und dich etwas erkennen lassen.". Ein herzlicher Abschied, wie er ihn in seinem ganzen Leben noch nicht hatte, folgte. „Ich weiß nicht, ob sich unsere Wege jemals erneut kreuzen werden. Es ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Ich werde jeden Tag hoffen, dass alles, was jetzt kommt, für dich besser als das bisher Bekannte sein wird.". „Der Andere", der allgemein recht selten sprach, bedankte sich und beide Riesen fingen langsam an zu weinen. Nach einem letzten lang angehaltenen Blickkontakt trennten sich ihre Wege und die Reise ins Ungewisse begann.

You've reached the end of published parts.

⏰ Last updated: Aug 26 ⏰

Add this story to your Library to get notified about new parts!

Nebel der UnschuldWhere stories live. Discover now