Kapitel 55: Eis

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Mit einem kleinen Stück Drachenglas bewaffnet, schlich sich Lyanna in der Finsternis der Nacht in den Götterhain. Die heißen Quellen sorgten außerdem für einen dichten Nebel, der Lyanna verbarg. Als Kinder hatten sie und Robb oft zwischen den Bäumen und Quellen gespielt, weshalb sie jeden Stein und jede Wurzel am Boden auswendig kannte. Da Bran in seinem Rollstuhl unter dem Wehrholzbaum wartete, kannte Lyanna bereits ihr Ziel. Leise und langsame Schritte halfen ihr, nicht bemerkt zu werden. Schritt für Schritt stieß sie immer weiter zum Wehrholzbaum vor, bis sie die Feuerschale sah, die für Theon und seine Bogenschützen aufgestellt wurde. Um den Wehrholzbaum war der Nebel nicht mehr so dicht, weshalb sich Lyanna hinter dem breiten Stamm eines anderen Baumes zuerst einen Überblick verschaffen wollte.

Trotz Nebel und Dunkelheit konnte Lyanna Bran unter dem Wehrholzbaum erkennen. Um den Baum standen die Kreaturen mit den blauen Gesichtern, und der Nachtkönig trat Bran gegenüber. Weil sie wusste, dass das ihre letzte Chance war, kam sie hinter dem Baumstamm hervor. Sie fand eine Lücke zwischen zwei Kreaturen, durch die sie schnellstmöglich hindurchschlüpfen konnte. Auch wenn diese zwei sie nicht mehr fassen konnten, wurde sie somit von den anderen bemerkt. Ihre Schreie klangen wie das Knacken von Eis, daraufhin drehte sich der Nachtkönig weg von Bran und wandte sich Lyanna zu.

Löwenmut und Wolfsblut ließen sie beim Anblick seiner grellen, blauen Augen nicht gleich aus Angst in Ohnmacht fallen. Ihr Herz schlug wie wild, als er sich ihr immer weiter näherte. Bald spürte sie seinen eisigen Atem, doch die Nähe war notwendig, um ihn mit dem Bruchstückchen Drachenglas zu erreichen. Es war noch dazu klein genug, dass er es vielleicht erst zu spät bemerken würde.

Der Nachtkönig stand nun nur mehr einen Schritt von Lyanna entfernt. Ihre Atmung wurde unregelmäßig und nervös, sie wurde regelrecht starr vor Schrecken. Trotzdem schaffte sie es, dem Nachtkönig den Drachenglassplitter in den Körper zu stechen. In dem Moment hatte sie erwartet, dass er starb, wie es auch seine anderen Kreaturen taten, doch stattdessen zog er sich das Stückchen aus seiner Hand. Er zerdrückte es mit bloßen Fingern und ließ es wie Staub zu Boden fallen. In diesem Moment hatte Lyanna bereits mit ihrem Leben abgeschlossen. Sie fragte sich nur mehr, wie der Nachtkönig sie wohl töten würde, doch dann fühlte sie auf einmal Wärme auf ihrem Bauch.

Als der Nachtkönig von ihr wegtrat und sich wieder Bran zuwenden wollte, sah Lyanna nach unten. Eine Art Eiszapfen steckte in ihrem seitlichen Unterbauch. Blut floss bereits heraus und tropfte auf den Boden. Ihre Hände und Beine fingen an zu zittern. Als eine Kurzschlussreaktion zog sie sich die Waffe aus Eis aus ihrem Körper. Der Nachtkönig, der ihr den Rücken zugewandt hatte und nur einen Schritt von ihr entfernt stand, war zu sehr auf Bran konzentriert. Selbst seine Lakaien konnten ihn nicht mehr rechtzeitig warnen, bevor Lyanna den mit ihrem eigenen Blut benetzten Eiszapfen in seinen Rücken stach.

Langsam drehte er sich um, bevor er plötzlich, wie Eis, das zu Boden fällt, mit einem unheimlichen und fürchterlichen Fauchen in tausende Teile zersprang. Einzig der Zapfen landete heil am Boden. Ringsum den Wehrholzbaum bot sich das gleiche Bild. Dort, wo vor kurzem noch diese Kreaturen standen, lag nicht mehr als ein kleiner Haufen Schnee.

Mit einem Lächeln sah Lyanna erleichtert ihren kleinen Bruder an, bevor alles vor ihren Augen schwarz wurde und sie vor Bran zusammenbrach.

Auf einmal sah Lyanna Gesichter aus ihrer Vergangenheit. Robb forderte sie gemeinsam mit Grauwind und Silber zu einem Wettrennen zu Pferd heraus. Lyanna stimmte dem zu, weshalb sie sich auf ihr Pferd schwang. Vater, Mutter und Rickon sahen ihr zu, als sie mit Robb und den Schattenwölfen durch das Tor ritt. Nachdem sie Winterdorf hinter sich gelassen hatten, konnte die Zwillinge nichts mehr aufhalten. Lyanna trieb ihr Pferd an, sodass Robb nur mehr ihren Staub sehen sollte. Selbst Silber hatte Probleme, mit ihr mitzuhalten. Als sie auf dem Hügel vor Winterfell ankam, wartete sie auf Robb, denn sie hatte bereits gewonnen. Normalerweise nahm er selbst seine Niederlagen immer gut auf, doch diesmal hatte er kein Lächeln im Gesicht.

Auf einmal färbte sich der sonnige Sommerhimmel schwarz und die warme Brise wurde zu einem kalten Wind. Dort, wo vorher noch Gras war, lag jetzt Schnee und Lyanna wurde auf einmal kalt. Vor Winterfell brannte Feuer und Leichen lagen vor den Mauern.

„Wir haben diese Welt gemeinsam betreten, doch wir können sie nicht mehr gemeinsam verlassen. Ich, Vater, Mutter und Rickon sind tot. Du gehörst zu den Menschen dort unten. Hier bei uns hast du noch keinen Platz. Du musst gehen, Schwesterchen."

The Red Wolf of the NorthWo Geschichten leben. Entdecke jetzt