Nico zog sie zwar die verbleibenden fünf Tage damit auf, wann immer er konnte, doch an ihrem ersten Trainingstermin war er nicht da. Stattdessen traf sie zwei neue Adlige, die beide recht freundlich zu ihr waren. Zumindest, wenn sie nicht im Ring gegen sie antraten. Der eine war mit seinen scharf geschnittenen Zügen offensichtlich hochadlig, sprach aber mit einem seltsamen Akzent und erzählte ihr bereitwillig, er sei aus den Wäldern. Er hieß Oliver und Cress hielt ihn für sensibel auf eine unaufgeregte Weise. Der zweite Adlige war circa fünf Jahre älter, sprach wenig und trug im Gegensatz zu all den anderen einen gepflegten Bart, der ihn noch älter erscheinen ließ. William Belcane, stellte er sich vor und drückte ihre Hand so fest, als hielte er sie für einen respektablen Gegner. Dabei war sie ein Wrack. Die Männer aus Julians Zirkel trainierten abwechselnd mit ihr. William Belcane, Oliver Bernadotte und leider auch Nicholas van Garde, der offensichtlich gerne Platz in seinem Kalender machte, um sie zu quälen. Sie trafen sich auf den Klippen, wo in einem Felsengarten ein großer Pavillon über den See hinausblickte. Während Belcane und Bernadotte lieber im Gras trainierten, um mögliche Verletzungen zu vermeiden, sah van Garde das überhaupt nicht ein. Jedes Mal, wenn er mit den Händen in den Taschen in Schuljungenmanier auf Cress zu geschlendert kam, kroch sie am Ende des Tages förmlich nachhause. Mehrere Wochen lang ging dieser Rhythmus vor sich. Nico sagte ihr in groben Zügen, was in der Schlucht passiert war: dass sie gefallen war und man sie gerettet hatte. Dass die Erinnerung in Sicherheit und der Bunker zerstört war. Er sagte ihr auch, dass sie sich keine Sorgen machen und die Erwachsenen den Rest regeln lassen sollte. Cress glaubte ihm nicht, dass das die ganze Wahrheit war. Irgendetwas verschwieg er ihr. Van Gardes lässiges Grinsen nervte sie mit jeder Trainingseinheit mehr. Er provozierte sie mit ihrer Unwissentheit, erzählte ihr aber keinen Satz mehr.
Dann brach sie ihm die hübsche Nase, er war beleidigt und das nächste Mal, als sie zum Pavillon kam, erwartete sie Julian. Der Wind schien mehrere Grad kühler zu werden, als sie ihn kommen sah. Cress wusste rein rational, dass es nicht seine Schuld war. Doch irgendjemand musste schuld sein. Sie spürte den kleinen Kristall unter ihrem Top auf ihrer Haut liegen, während er näherkam und der Wind ihm die Frisur ruinierte. Eine Weile sagte niemand etwas.„Bekomme ich jetzt eine Standpauke?", fragte Cress herausfordernd, nachdem der Grund seines Erscheinens offensichtlich war, dass Nico eine kleine Petze war. Julian betrachtete sie einen Moment, schüttelte dann aber den Kopf. Barfuß und in für seine Verhältnisse sehr entspannter Kleidung, sah er immer noch mehr nach Krieg aus, als nach Krone.
„Wie war es, mit meinen Freunden zu trainieren?", fragte er, während er seine Hemdsärmel unzeremoniell hochschob.
„Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: dein Cousin ist ein sadistisches Arschloch."
Julian schnalzte missbilligend mit der Zunge. Sie bewegten sich immer noch, langsam, lauernd.
„Nico meinte, ich soll mich selbst um dich kümmern", sagte er nach langer Stille.
Cress schob das Kinn vor. Die Herablassung, die Nerven, die van Garde hatte. Er war kein guter Verlierer. Sie hoffte, dass seine Nase ordentlich weh getan hatte. Dann blieb der Kronprinz stehen, als würde ihm der eigentliche Grund seines Kommens wieder einfallen.
„Ich glaube nicht, dass es unmöglich ist, dir die Erinnerung zurückzugeben."
Cress war auf ihn zu getreten. Jedes Mal, wenn sie seine Aufmerksamkeit auf sich spürte, war es wieder, als würde sie in die Tiefe sehen und sein letzter Satz hatte sie über die Kante geworfen.
„Aber wir sollten erst herausfinden, ob du sie überhaupt zurückwillst."
Diese neue, verständnisvolle Masche war verwirrend. Hatte van Gardes Provokation nur dazu gedient, diesen Auftritt vorzubereiten?
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...