69 - Arete Villa, Küche

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Cress füllte ein Glas mit Wasser und verschüttete uncharakteristisch tollpatschig die Hälfte. Sie lehnte an der Theke, stellte das Glas ab und trank nicht, weil sie Angst hatte, sich ansonsten zu übergeben. Vor dem Wintergarten lagen die schweren Flügel auf dem Rasen, ironischerweise als einzige nicht betroffen von dem Wind, der über sie hinweg fegte. Sie hatte den Adel gehasst. Über Jahre hinweg. Jetzt stand sie in der Arete Villa, trank das sauberste Wasser, das sie je gesehen hatte und der Kronprinz eröffnete ihr, dass sie selbst vor der Passage zu den blauäugigen Bastarden gehört hatte? Ihr Verstand hatte solche Schwierigkeiten diese Tatsache hinzunehmen, dass sie Kopfschmerzen bekam.

„Hier", sagte er und legte zwei seiner blauen Mappen auf den Tisch. „Das hier ist die Akte über dich vor der Passage. Die hier über dich danach."

Cress sah den Papierstapel, der dem ähnelte, der aus heiterem Himmel auf ihrem Nachtisch aufgetaucht war, an, als könne er jeden Moment Feuer fangen. Julian lehnte sich neben den Akten an den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich habe nie damit gerechnet, einen Adligen zu treffen, ansonsten hätte ich geschworen ihm die Augen auszukratzen."

Julian antwortete nicht. Er sah sie nur an. Nicht mitleidig, aber seine Ausstrahlung war anders als sonst. Von Ruhe konnte keine Rede sein. Allein, dass er ihr in die Küche gefolgt war, anstatt auf ihre Rückkehr zu warten. Er wollte dieses Gespräch hinter sich bringen. Das hieß, dass es noch nicht zu Ende war.

„Lest vor", sagte sie. Julian sah auf die Akten hinunter. Er ging zurück zur Tür, um das Licht einzuschalten. Dann nahm er die Papiere an sich, ging hinüber in den Wintergarten und setzte sich.

„Cress Cye, Alter 20 Jahre, Weiblich. Alias: Schattenvogel, Nacht, Elster und so weiter. Titel: Joker. Verbindung zu: Clubs. In der Vergangenheit Verbindungen zu: Hearts, Diamonds, Spades."

In Cress Kopf hatte ein Summen eingesetzt. Der Bariton ihres Gegenübers floß eben über die Worte hinweg, aber jedes klang einzeln nach in ihrer Wahrnehmung. Datum der Passage. Die Daten, zu denen sie Gilde gewechselt hatte. Sie wussten viel über sie. Dinge, die voraussetzten, dass es Spione in den Gilden gab. Cress ging im Kopf die Menschen durch, mit denen sie unter den verschiedenen Gangsterfürsten gedient hatte. Einer von ihnen hatte alle in seinem Umfeld an die Krone verraten.

„Romantische Beziehung, bekannt: eine. Dice Nuia", laß Julian. „Joker der Herzgilde."

Cress hatte sich auf ihren Ellbogen gelehnt und sah aus dem Fenster hinaus. Der Prinz legte die Akte auf die Bank neben sich. Er beobachtete sie, bis sie ihn wieder ansah. Cress wusste, wie es aussah. Als hätte sie sich bei den Hearts hochgeschlafen, indem sie mit Dice anbandelte. Sie dachte an den Mann, den Nana Rouge ausgesucht hatte, um sie in Schach zu halten. Sie wollte Julian davon erzählen, wenn auch nur, damit er ein bisschen mehr verstand, wie grausam die Machtspiele in den Narben waren. Wahrscheinlich kannte er die Geschichte ohnehin schon, schließlich hatte sie van Garde nicht gebeten, ihr Geheimnis zu hüten. Selbst wenn sie es getan hätte, war fraglich, ob er der Bitte nachgekommen wäre.

„Sie haben das Ass der Herzdame gegen mich in den Ring geschickt, so sehr habe ich sie provoziert", murmelte Cress. „Dice Nuia. Die meisten der Verbrechen, für den die Hohe den Assassinen hingerichtet hat, waren seine. Er kämpfte normalerweise nicht in den Ringen, sondern ist Linienrichter, wenn Nana Rouge keine andere Verwendung für ihn hat. Weil sich niemand traut irgendetwas Dummes zu tun, wenn er da ist. Und wenn, dann ist die Sache schnell erledigt. Sie haben ihn gegen mich geschickt an meinem ersten Abend unter Geistern und die Herzdame selbst ist aufgetaucht, um den Kampf zu überwachen."

„Und wer hat gewonnen?", fragte Julian ruhig. Es war überraschend leicht, ihm schmerzhafte Geschichten zu erzählen. Weder war er überrascht, noch reagierte er mitleidig.

Cress antwortete nicht. Natürlich hatte sie die rechte Hand der Herzdame gewinnen lassen. Sonst wäre sie von den Schützen niedergeschossen worden, die die Hearts um die Ringe postierten. Falls jemand ausrastete und das nur einen Ticken unkontrollierter als Cress es getan hatte.

„Dice Nuia", sprach der Erbe des Imperiums aus. „Dice bedeutet Würfel in einer der toten Sprachen. Interessanter Name in einer Welt voller Karten."

Er taxierte sie einmal mehr.

„Wünschst du seinen Tod?", fragte Julian, beinahe beiläufig. Er hatte sich vorgebeugt, Ellenbogen auf den Knien. Es schien eine neutrale Frage zu sein, doch Cress wusste es besser. Sie saß einem der Menschen gegenüber, die Mittel und Wege hatten, den Joker der Herzgilde still und leise aus dem Verkehr ziehen zu lassen. Dice Nuia war ein gefährlicher Mann, aber er hatte Julian nichts entgegenzusetzen. Bot er genau das an? Ihr? Cress schauderte.

„Wieso fragst du das?"

Ein düsteres Flackern zog durch seine Augen. Er griff nach der zweiten Akte neben sich und schlug sie auf seinem Schoß auf. Cress Puls schoss schlagartig in die Höhe. So einfach war es. Alles lag ausgebreitet vor ihm, schwarz auf weiß.

Julian nahm ein Foto aus der Akte, drehte es vorsichtig um und reichte es ihr. Cress sah sich selbst in die Augen. Einer jüngeren Version von sich, die freundlich, aber auch etwas misstrauisch in die Kamera sah. Sie trug lange funkelnde Ohrringe, wie Finja es manchmal tat und ihre Augen ... waren beide blau.

Cress starrte das Foto an. Wie alt war sie gewesen, fünfzehn?

„Lass uns zurück in die Halle gehen", sagte Julian. „Ich habe meinen Whiskey dort gelassen und ich fürchte, dass ich es ohne nicht über mich bringen werde."

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt