Es war wieder einer dieser Abende, an denen ich einfach raus musste. Der ständige Druck von zu Hause und der Schule war zu viel. Als ich durch das Fenster meines Zimmers auf die dunkle Straße sah, wusste ich, dass ich nicht länger dort sitzen konnte. Ich war erst 17, doch meine Eltern gaben mir erstaunlich viel Freiheit, solange ich mich an ihre Regeln hielt. Es war merkwürdig, aber gleichzeitig ein gutes Gefühl. Sie vertrauten mir, und ich wusste, dass sie immer für mich da waren, wenn ich sie brauchte. Aber manchmal war das Vertrauen, das sie mir schenkten, überwältigend, und ich brauchte einfach Zeit, um für mich selbst zu sein, ohne dass jemand nach mir sah.
An diesem Abend war es der Drang nach Ruhe, der mich aus dem Haus trieb. Der Wald hatte immer etwas Beruhigendes an sich, eine Stille, die ich schätzte. Die Welt schien dort anders zu sein, unberührt von den Sorgen des Alltags. Ich wusste, dass ich mich dort allein und sicher fühlen würde. Die Hektik der Schule, das ständige Gefühl, immer etwas leisten zu müssen, verließ mich, je weiter ich von zu Hause wegkam. Es war wie ein kleiner Rückzugsort, ein geheimer Platz, an dem niemand mich finden konnte.
Ich zog mir meine Jacke über, schlüpfte in meine alten, abgetragenen Sneakers und schlich aus der Haustür, ohne ein Geräusch zu machen. Die Nacht war kühl, der Himmel nur spärlich von den Sternen erleuchtet. Der Mond schickte silbernes Licht auf die verlassenen Straßen. Als ich die Straße entlangging, schaute ich auf die Uhr. Sie zeigte 23:47 Uhr. Normalerweise wäre ich jetzt bei meinem Freund. Doch er war nach New York gefahren, um seine Familie zu besuchen. Ich hatte überlegt, mitzukommen, aber mit den Prüfungen vor der Tür entschied ich mich, zu Hause zu bleiben und zu lernen. Ich wollte mich nicht ablenken lassen, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich diese Zeit für mich selbst brauchte. Es war seltsam, aber ich fühlte mich in letzter Zeit oft von der Welt entfremdet - von meinen Freunden, meiner Familie, sogar von ihm. Es war nicht, dass ich ihn nicht mehr liebte, aber irgendetwas in mir sehnte sich nach Abstand, nach etwas, das nur mir gehörte.
Als ich den Waldrand erreichte, atmete ich tief die kühle, klare Luft ein. Die Bäume standen dicht beieinander und schienen in der Dunkelheit zu verschwinden, doch ich kannte den Weg. Ich hatte ihn unzählige Male gegangen, hatte jede Kurve, jede Wurzel und jeden Hügel in den letzten Jahren auswendig gelernt. Der Wald war wie ein alter Freund, der mich nie enttäuschte, der immer darauf wartete, dass ich zu ihm zurückkehrte. Der Weg war noch immer vertraut, obwohl sich einiges verändert hatte, seit ich das letzte Mal hier war. Manche Bäume hatten sich weiterentwickelt, neue Pflanzen waren gewachsen, aber der Wald selbst hatte seine Magie nie verloren. Es war fast, als wäre der Wald der einzige Ort, an dem ich mich nicht ständig fragte, was die Zukunft für mich bereithielt.
Ich ging etwa 15 Minuten tief in den Wald hinein, bis ich vor einem vertrauten Baum stand - einem riesigen Eichenbaum, dessen Äste sich weit über mich hinausreckten. Direkt davor, in einer der oberen Äste, war das Baumhaus. Es war das Baumhaus, das mein Vater, meine beste Freundin Leni und ich vor Jahren zusammengebaut hatten. Damals war alles noch so unbeschwert gewesen. Es war unser geheimer Ort, unser Versteck, der Platz, an dem wir uns zurückziehen konnten, um zu träumen, zu lachen und die Welt aus der Ferne zu betrachten. Der Tag, an dem wir das Baumhaus fertiggestellt hatten, war einer dieser perfekten Sommertage gewesen. Der Himmel war wolkenlos, und der Duft von frischem Holz und Gras hatte die Luft erfüllt. Der Sommer, der vor uns lag, schien endlos und voller Möglichkeiten. Doch das war eine Ewigkeit her, und dieser Sommer war der letzte, den ich mit meinem Vater verbracht hatte.
Im September darauf, kurz nach meiner Einschulung, nahm sich mein Vater das Leben. Es war ein harter Schlag, den ich nie ganz verstand. Die Welt, die ich gekannt hatte, zerbrach in Stücke, und mit ihr verschwand auch das Gefühl von Sicherheit. Das Baumhaus, das uns für immer verbunden hatte, wurde für mich zu einem Ort der Trauer, aber auch der Erinnerung. Es war der Rückzugsort, den ich immer wieder aufsuchte, besonders in den dunklen Momenten, wenn ich mich von der Welt entfremdet fühlte. Und an diesem Abend war es wieder der Ort, an dem ich Trost suchte.
Ich stieg die alte Holzleiter hinauf und ließ mich auf einer der Hängematten nieder. Die Matten waren ursprünglich für unseren Garten gedacht, doch als wir die Bäume fällen mussten, um Platz für das Baumhaus zu schaffen, hatte sich plötzlich eine neue Idee ergeben. Die Matten passten perfekt, und sie machten das Baumhaus noch gemütlicher, als es ohnehin schon war. Der Geruch von frischem Holz, das von den Bäumen stammte, vermischte sich mit dem Duft der Hängematten, und ich schloss die Augen. Die Erinnerungen an all die Tage, die wir hier oben verbracht hatten, stiegen in mir auf. Leni, die immer eine unglaubliche Phantasie hatte, die uns Geschichten erzählte, während mein Vater und ich zusammen an den Balken schraubten. Es war der Ort, an dem ich all meine Sorgen loslassen konnte. Heute war ich allein, aber ich fühlte mich nicht einsam. Im Gegenteil, es war fast beruhigend.
Ich holte mein Handy heraus und las die Nachrichten, die von meinem Freund kamen. In den letzten 15 Minuten hatte ich 10 Nachrichten von ihm erhalten. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, was immer passierte, wenn er mir schrieb oder wenn ich ihn sah. Es war ein warmes Gefühl, und ich wusste, dass es keine Zufälle waren, dass wir uns damals in der ersten Klasse der High School kennengelernt hatten. Seitdem waren wir ein Paar, auch wenn es viele Mädchen gab, die eifersüchtig auf uns waren. Sie schienen sich nie zu schämen, mir ihre Blicke zuzuwerfen, als würden sie glauben, dass er und ich nicht zusammenpassten. Aber es war mir egal. Ich wusste, dass wir füreinander bestimmt waren.
Wir hatten viele gemeinsame Erlebnisse und waren durch dick und dünn gegangen. Es war immer klar, dass wir uns liebten, und diese Liebe hatte uns stärker gemacht. Ich las die letzten Nachrichten, in denen er mir von seinem Aufenthalt in New York erzählte. Er schickte mir ein Bild von seinem Lieblingsplatz dort - einem alten Café, das sie immer besuchten, wenn er mit seiner Familie zusammen war. Ich fühlte mich ihm so nahe, selbst über die Entfernung hinweg. Es war ein beruhigendes Gefühl.
Ich schaute mich im Baumhaus um. Die Wände waren mit Bildern übersät, die Erinnerungen an die schönen Momente, die wir zusammen verbracht hatten. Bilder von meiner Familie, von Leni und mir, von mir und meinem Vater. Es war eine Art Schrein, ein Denkmal für all die glücklichen Zeiten, die uns nie genommen werden konnten. Inmitten all der Tränen und der Trauer war dies der Ort, an dem ich immer wieder nach Frieden suchte.
Ich nahm mein Tagebuch hervor, das ich immer dabei hatte. Es war mein treuer Begleiter in den letzten Jahren. Ich begann zu schreiben, die Gedanken flossen auf die Seiten, als wären sie ein Teil von mir. Wort für Wort. Das Tagebuch war für mich wie eine Freundin, die immer ein offenes Ohr hatte. Es half mir, all meine Gefühle und Gedanken zu ordnen und aus meinem Inneren herauszulassen. Eine Weile später legte ich das Buch zur Seite und stand auf. Es war Zeit für eine kleine Pause.
Ich ging zu einer Kiste in der Ecke und holte ein kleines Kissen sowie eine Decke heraus. Ich legte beides auf die Hängematte und nahm mir ein weiteres Buch, das ich vor einiger Zeit begonnen hatte zu lesen. Der Wald um mich herum war still, fast magisch. Der Wind wehte sanft durch die Blätter, und es war, als ob die Bäume ihre eigenen Geschichten flüsterten. Es war der perfekte Moment. Der Wald, das Baumhaus, das Buch - ich fühlte mich so weit entfernt von der Welt da draußen.
Irgendwann schlief ich ein, das Buch in meiner Hand. Doch es war nicht die Kühle, die mich weckte. Es war eine plötzliche Bewegung, die mich aus dem Schlaf riss. Ich spürte eine Hand, die meinen Arm packte. Erschrocken riss ich die Augen auf und starrte in das Gesicht eines jungen Mannes. Der Mond schien schwach auf sein Gesicht, doch seine braunen Augen stachen in die Dunkelheit. Sie waren intensiv, als würden sie bis in meine Seele blicken.
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Kipnapped by a phyco DE
RomanceAus Liebe kann Hass entstehen, und genauso kann Hass in Liebe verwandelt werden. Diese Lektion hat mir Nathanael Morgen beigebracht - nicht nur, dass die Grenzen zwischen diesen beiden Gefühlen oft verschwimmen, sondern auch, dass Liebe nicht immer...