Miras Melodie

16 0 0
                                    

In einem Land, in dem die Musik eine ganz besondere Bedeutung hatte, herrschte eine tiefe Harmonie. Jede Stadt, jedes Dorf und jede Familie hatte ihre eigene Melodie. Die Menschen ließen ihre Melodien erklingen, um sich zu begrüßen, um ihre Gedanken miteinander zu teilen und um ihre Gefühle auszudrücken. Und all diese Melodien harmonierten in ganz besonderer Weise miteinander – sie bildeten zusammen eine Sinfonie. Zumindest schien es so.

Mira, eine junge Frau aus einem kleinen Dorf am Rande der Berge, war in dieser Welt aufgewachsen. Doch obwohl sie in einer Familie groß wurde, die für ihre klaren, sanften Melodien bekannt war, fühlte sich Mira immer ein wenig fehl am Platz. Sie fand in sich einfach keine Melodie, die zu den Melodien der anderen in ihrer Familie passte. Während ihre Eltern und Geschwister in perfekter Harmonie miteinander sangen, kämpfte Mira damit, ihre eigene Stimme zu finden. Oft klang das, was sie zu singen versuchte, schief, ihre Töne klangen schroff und fremd in den Ohren der anderen.

„Du hörst nicht richtig zu, Mira", sagte ihr Vater eines Abends, nachdem sie es wieder einmal vergeblich versucht hatte. „Du musst dir mehr Mühe geben. Lass dich doch einfach auf die anderen ein, dann wirst du dich mit deinem Klang einfügen. Weißt du, es geht nicht um dich, es geht um etwas größeres: um unseren Zusammenhalt, um die Harmonie, um das, was wir gemeinsam haben!"

Ihre Mutter, die eher still war, nickte nur, aber ihr Blick war besorgt. „Wir wissen, dass du die passende Melodie in dir hast, Mira", fügte sie sanft hinzu. „Du bist doch ein Teil dieser Familie, dieser Gemeinschaft. Du musst nur die Verbindung spüren. Nur wenn es Harmonie gibt, sind wir alle sicher in dieser Welt."

Mira spürte den Druck der Erwartungen. Sie liebte ihre Eltern und wollte ihnen gefallen, aber tief in sich wusste sie, dass es nicht am Zuhören oder am sich Bemühen lag. Da war eine Melodie irgendwo in ihr, und diese Melodie war anders, sie passte nicht in das gemeinsame Lied ihrer Familie und ihres Dorfes. Aber diese Melodie war nur eine ferne Ahnung von etwas, das vielleicht sein könnte aber nicht sein durfte.

Ihr älterer Bruder, der sein Lied perfektioniert hatte und es besser beherrschte, im Einklang zu sein, als jeder andere, sah sie oft mit einer Mischung aus Mitleid und Ungeduld an. „Es ist doch nicht so schwer, Mira", sagte er eines Abends. „Du musst aufhören, dich zu sperren. Vielleicht bist du einfach zu stur."

Und der Druck nahm immer mehr zu. Die Dorfbewohner begannen, ihr vorzuhalten, wie wichtig es sei, dass jeder seine Rolle in der Harmonie des Dorfes spiele. Der Dorfälteste besuchte sie eines Abends und sprach mit ernster Stimme: „Wenn du nicht lernst, mit allen im Einklang zu singen, wirst du die Harmonie unseres Dorfes zerstören. Vielleicht bringst du auch noch andere auf dumme Gedanken, und dann passt irgendwann gar nichts mehr zusammen. Siehst du nicht, wie gefährlich das ist?"

Diese Worte belasteten Mira schwer. Sie liebte ihr Dorf, ihre Familie, doch sie fühlte, dass ihre eigene Melodie, die sie in sich zu spüren begonnen hatte, mindestens genauso wichtig war. Das war schließlich sie selbst, das fühlte sie ganz genau. Sie versuchte zwar immer mal wieder, die auftauchende Melodie zu unterdrücken, um sich in die gewohnte Harmonie der anderen einzufügen – doch das fühlte sich so an, als würde ein Teil von ihr selbst verkümmern. Die Melodie tief in ihr drängte sich immer mehr in den Vordergrund.

Eines Morgens, als Mira alleine durch den Wald wanderte, um auf andere Gedanken zu kommen, sah sie plötzlich einen seltsamen Vogel. Sein Gefieder schillerte in allen Farben des Regenbogens und er saß auf einem Ast, von dem aus er Mira neugierig beobachtete. Und plötzlich begann der Vogel zu singen – er sang ein Lied, das ganz anders war als alles, was Mira je gehört hatte. Die Töne waren wild, ungezähmt, aber auch schön auf eine Weise, die Mira tief in ihrem Herzen berührte.

„Du klingst auch nicht wie die anderen", sagte Mira leise mit Tränen in den Augen. Der Vogel sah sie an, neigte den Kopf und sang weiter, als würde er Mira antworten.

Miras MelodieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt