Kapitel 1: Der Anfang Vom Ende

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Mein Name ist Sam.

Für die meisten von euch bin ich nur ein Fremder. Ein Gesicht in der Menge, ein Niemand. Doch das, was ich erzählen werde, ist keine Märchenstunde, kein Stoff für eine leichte Lektüre, den man nebenher im Café liest. Diese Geschichte ist schwer, chaotisch und vielleicht ein Spiegel, in den ihr nicht unbedingt blicken wollt.

Es ist meine Wahrheit, so nah an meiner Seele, dass es mich zerreißt, sie in Worte zu fassen. Vielleicht verwirrt sie euch, vielleicht schockiert sie euch, vielleicht rührt sie euch nicht im Geringsten. Doch dies ist mein Leben. Der schmerzhafte Anfang eines Weges, den ich niemals wieder gehen würde, wenn ich die Wahl hätte.

Schon als Kind war ich anders. Meine Mutter sagte immer, ich sei „besonders", doch dieses „Besonders“ war nicht das liebevolle Kompliment, das es für andere Kinder vielleicht sein könnte. Für sie war es ein Geheimnis, das sie selbst nicht verstand. Ich konnte es ihr nicht verdenken; ich verstand es auch nicht. Während andere Kinder miteinander spielten, laut lachten und tobten, zog ich mich zurück, floh in eine Welt, die nur in meinem Kopf existierte. Mein Herz schlug schneller, wenn ich allein war, und die Stille erfüllte mich mit einer merkwürdigen Wärme. Ich hatte Freunde – aber sie waren nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus der Tiefe meiner Fantasie. Unsichtbar für alle außer mir, waren sie meine Begleiter in einer Welt, die ich selbst geschaffen hatte, um der Realität zu entkommen.

Die Schule verstärkte nur, was bereits angelegt war: mein Anderssein wurde zum Makel, zu einem Stigma, das ich mit mir trug. Es war nicht nur das Fehlen von Freunden – es war, als hätten alle anderen Kinder instinktiv gespürt, dass ich nicht wie sie war. Mein Kopf wanderte in Träume ab, in Geschichten, die für die Lehrer unverständlich blieben, für meine Mitschüler eine Einladung zum Mobbing waren. Sie zogen mich an den Haaren, schubsten mich, lachten über mich. Und ich? Ich ließ es geschehen. Ich hatte nie das Bedürfnis, zurückzuschlagen. Stattdessen ertrug ich die Demütigungen wie einen schlechten Film, in dem ich festgehalten wurde und von dem ich hoffte, dass er bald enden würde.

Eines Tages, mitten in einem dieser „Rituale", kam er plötzlich in mein Leben – Janic Ledoux. Der neue Junge aus dem Nachbarhaus. Ohne zu zögern stellte er sich zwischen mich und die anderen, die ihn daraufhin genauso in die Toilettenschüssel drückten wie mich. Und doch: dieser Tag veränderte alles. Er schaffte es, mich aus meiner selbst geschaffenen Isolation zu holen. Seine Gegenwart war wie ein Anker in einem tobenden Meer, das mich Tag für Tag zu verschlingen drohte. Ich erzählte ihm von den Dingen, die ich sah, von den Träumen, die lebendiger waren als das, was ich als meine Realität erlebte. Er hörte zu, wirklich zu, ohne zu urteilen. Für mich war er mehr als ein Freund. Er war mein Bruder.

Mit der Zeit, als wir älter wurden, begann ich zu glauben, dass das Leben vielleicht doch mehr für mich bereithielt als einsame Abende und verschlossene Türen. Doch dann trat Tiffany in mein Leben – und mit ihr die erste Liebe. Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte, mit sanften Augen und einer warmen Stimme, die die Dunkelheit in mir durchbrach wie ein Sonnenstrahl. Zum ersten Mal fühlte ich mich lebendig, fühlte, dass ich jemand sein könnte, der es verdient, geliebt zu werden. Tiffany wurde alles für mich. Sie sprach von ihren Träumen, erzählte mir von ihrer Idee, eines Tages einen kleinen Laden zu eröffnen, in dem sie Müttern selbstgemachte Kleidung für ihre Babys anbieten würde. Ich konnte ihre Begeisterung sehen, wie ihre Augen leuchteten. Und für mich war klar: Ich würde alles tun, um ihr diesen Traum zu erfüllen.

Wir verlobten uns, noch bevor wir die Highschool beendeten. Es war der glücklichste Moment meines Lebens. Doch mit Tiffany kam auch Amy, ihre beste Freundin, die ich nie leiden konnte. Blond, auffällig und – in meinen Augen – eine Überfliegerin, die sich immer in unser Leben drängte. Amy hielt nichts von mir, das machte sie mir deutlich, und ich wusste auch, warum. Sie war überzeugt, dass ich Tiffany nicht gut genug war. Ich lachte darüber, versuchte, sie zu ignorieren, denn für mich war sie nichts als ein Störfaktor in einem Leben, das nun perfekt schien.

Doch dieses Glück war flüchtig. Schon bald begann das perfekte Bild Risse zu bekommen. Tiffany wurde schwanger, und mit der wachsenden Verantwortung kam auch das Gefühl der Enge. Ich sah, wie sie sich veränderte, wie unsere Gespräche seltener wurden, wie sie immer erschöpfter wirkte. Gleichzeitig suchte ich Trost in der Gesellschaft einer anderen Frau – meiner Sekretärin Trudy, die mir das Gefühl gab, begehrt und verstanden zu werden. Sie lachte über meine Witze, bewunderte mich für meine Arbeit. Und ich, blind und schwach, stürzte mich in diese Affäre wie in einen Strudel, der mich Stück für Stück von Tiffany wegzog.

Als unser Hochzeitstag kam, brachte ich ein Armband mit der Gravur „mein kleiner Diamant", wie ich Tiffany immer nannte, und legte es in den Laden. Doch betrunken und voller Schuldgefühle kam ich zu spät zur Feier. Tiffany stand da, sah den Lippenstift an meinem Hals, und ich sah, wie ihr Herz in tausend Stücke zerbrach. Ich hätte sie in den Arm nehmen, sie um Verzeihung bitten sollen. Doch stattdessen tat ich das Einzige, das ich kannte: Ich floh. Rannte davon, wie ein Feigling, während sie vor Schmerz und Verzweiflung zusammenbrach.

Dann hörte ich die Schreie von Amy, das quietschende Geräusch der Reifen, den dumpfen Aufprall. In einem einzigen Moment war alles, was ich je geliebt hatte, verloren. Tiffany lag auf der Straße, reglos, in einer Lache aus Blut, und ich, unfähig, zu begreifen, was geschehen war, kniete neben ihr. Der Körper, den ich so oft gehalten hatte, war plötzlich kalt, leblos. Tiffany war fort, und mit ihr das Leben, das wir geplant hatten, unser ungeborenes Kind, das wir Joel nennen wollten.

Die folgenden Wochen und Monate verbrachte ich wie ein lebender Toter. Die Erinnerungen verschwammen, doch der Schmerz blieb, bohrte sich in mein Herz wie ein rostiger Nagel. Die Beerdigung, die Leere, die Abgründe, in die ich blickte – nichts konnte den Verlust lindern. Amy verfluchte mich, nannte mich einen Mörder, sagte, ich hätte Tiffany auf dem Gewissen. Ihre Worte hallten in mir wider, wie ein Echo, das mich mit jeder Wiederholung weiter in den Abgrund zog. Ich lebte nur noch, weil ich zu feige war, meinem Leben selbst ein Ende zu setzen.

In den Jahren, die folgten, verlor ich alles. Mein Zuhause, meinen Job, jeden Funken Lebenswillen. Ich trieb durch die Tage, taumelnd, verloren in einem Meer aus Alkohol und Tabletten. Janic versuchte, mir zu helfen, aber nichts konnte mich aus der Dunkelheit ziehen. Schließlich endete ich in einer Klinik, ein Wrack, das früher einmal ein Mensch gewesen war.

Sieben Jahre sind seitdem vergangen, und heute sitze ich hier, versuche, meine Geschichte aufzuschreiben. Ich schreibe diese Zeilen nicht in der Hoffnung, dass ihr mich versteht, oder dass irgendjemand Vergebung für mich empfindet. Ich schreibe, weil ich nichts anderes tun kann. Dies ist mein Geständnis, meine Beichte, ein letzter Versuch, Frieden zu finden.

Mein Name ist Sam.

Und dies ist mein Geständnis....

Mein Name ist Sam...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt