45 - Narben, Tiefe

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Ein Herzschlag in der Schwärze. Wärme. Julian rutschte ab auf dem Weg hinüber zu der Stelle, wo der Körper lag. Noch warm. Sie steckte fest zwischen den Wänden. Er sah sie von oben, weil sie tiefer fallen konnte als er. Schmalere Schultern. Sie war am Becken hängen geblieben, als wäre sie gerade wie ein Pfeil in die Felsspalte gestürzt. Der rechte Arm war gebrochen, er hing über ihrem Kopf. Mehr sah er nicht im Schein der Lampe. Julian starrte einen Moment, dann riss er sich los und tastete die Wände ab. Er schlug eine neue Sicherung ein und hängte sich in den Fels. Er rutschte an der Wand entlang, bis er sich umdrehen konnte und über Kopf mit gedrehtem Oberkörper möglichst weit nach unten greifen konnte. Er bekam sie nicht zu fassen. Streifte nur ihre Fingerspitzen. Er wünschte, er wäre wieder neun Jahre alt und könnte durch jeden noch so schmalen Dienstbotengang schlüpfen. Hilflos streiften seine Finger den kalten Fels. Er rief sie leise beim Namen, aber natürlich bewegte sie sich nicht.

Julian wusste, dass er stecken bleiben könnte, aber er atmete aus, zog die Schultern so weit ein wie möglich und presste sich weiter vor zwischen die Felsen. Er musste es versuchen. Er hatte ein Versprechen gegeben.

„Kannst du mich hören?", fragte er und glaubte zu brechen. Ihre Finger zuckten. Er wusste nicht, was er redete, aber er sprach mit ihr, während der Stein im gegen den Brustkorb drückte. Sie lebte, aber nicht mehr lange, wenn er sie da nicht herausbekam. Er ließ eine von Wills Handteller großen Drohnen an ihr vorbei hinunterfliegen, um den Zustand ihrer Beine zu sehen. Besser als erwartet, sie musste ihren Fall ebenfalls gebrochen haben, auch ohne das Relief zu sehen. Und sie hatte die Granaten weggeworfen, wohl in der Annahme, dass sie detonieren würden beim Aufprall. Klug.

Julian wog seine Chancen ab. Dann piepste die Manschette, die ihren Blutdruck messen sollte und er hatte keine Wahl mehr. Er schob ihr ein Seil unter die Schultern und zog. Zum Glück war sie bewusstlos. Er schaffte es, sie herauszubekommen. Er versuchte nicht noch mehr schaden anzurichten, aber am Ende half nur ein gewisses Maß an Gewalt.

Er brauchte alles auf, was sie an Plasma in ihren Anzügen hatten, aber der Fels um ihn her war nass von ihrem Blut. Es half nichts, der Fall hatte zu viel Tribut gefordert. Julian hatte viele Menschen sterben gesehen. Er war auf den Mauern gestanden, während man Stricke um Hälse und Köpfe auf den Richtblock gelegt hatte. Doch der Tod hatte hier am Ende der Qelt ein neues Gesicht gefunden, das ihm mehr Furcht einjagte, als jedes seiner vorherigen. Er riss das Kit an seinem Arm auf. Nahm mit blutigen zitternden Fingern die Nadeln heraus.

Er war nicht oft Feldsanitäter, aber er bekam es hin. Blut floß durch die dünne Plastikröhre von seinem Arm in ihren. Er hatte genug davon für sie beide. Noch. Er hatte sich in der Felswand eingespreizt, unfähig zurück nach oben zu klettern. Über ihm und unter ihm gähnte Finsternis. Er hatte gesehen, wie der rote Punkt auf der Karte erloschen war und wusste, dass die anderen beobachtet hatten, wie auch seine Markierung im Nichts verschwunden war. Sie hatten keinen Anhaltspunkt, um mit der Suche zu beginnen. Sie würden es trotzdem tun. Doch ob sie sie finden würden, bevor sein Körper brach, konnte er nicht sagen. Sobald das Adrenalin weg war, würde er alles spüren, was er sich angetan hatte. Noch war es nicht so weit, aber noch waren es Minuten oder Stunden und keine Tage, die er hier hing.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie zu halten. Er rollte sich um sie herum, so gut es ging und löschte sogar das rote Licht, das ihm den Weg erhellt hatte. Wenn die Cyborgs sie fanden, wären sie tot. Er war in keiner Verfassung, um zu kämpfen. Vor allem nicht, wenn er sie beide davon abhalten musste, in den tückischen Felsspalt zu stürzen. Er würde es tun, aber gegen eine Flut wie sie über den Außenposten hereingebrochen war, war er machtlos. Und sie waren gefangen im Fels. Er zwang sich, nicht darüber nachzudenken und war dankbar, dass nicht schon ein Cyborg ihre Beine zerfetzt hatte. Die Dunkelheit war so absolut, dass es keinen Unterschied machte, ob er die Augen offen oder geschlossen hatte. Es rauschte in seinen Ohren. Sein Daumen lag auf Höhe ihrer Karotis, um sicherzustellen, dass der schwache Puls sich nicht verflüchtigte. Und dann war da noch der Regen, der langsam, aber sicher die ungeschützte Haut unter den beschädigten Rüstungen fand. In der Stille harrte er aus, atmete, atmete. An einem Ort, der sehr lange keine Menschen mehr gesehen hatte, waren nun gleich zwei davon aufgetaucht und weigerten sich standhaft, mit dem Atmen aufzuhören.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt