Kapitel 15

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„Das habe ich auch garnicht gemeint. Aber mir fällt es gerade ziemlich schwer deine Reaktion zu deuten.", erklärt sich Joanna und bringt mich völlig durcheinander. Jeder Satz macht das Chaos in meinem Kopf noch viel größer. „Ich bin einfach überrascht, weil ich nicht damit gerechnet habe. Wie auch? Du bist mit einem Mann verheiratet und hast niemals den Anschein gemacht, dass du dasselbe für eine Frau empfinden könntest." Nun lacht mein Gegenüber erneut und nimmt damit -vielleicht unterbewusst- meine Hand in ihre, was einen Blitz durch meinen Körper jagen lässt, den sie wohl ebenso spürt. Sie wird von einem auf den anderen Moment wieder ernst: „Ob ich das heute noch könnte, weiß ich nicht. Schließlich ist dieses Kapitel nun schon gut zehn Jahre her. Allerdings habe ich mich seitdem auch nicht bei Tomas als heterosexuelle geoutet und ihm offen von meiner ehemaligen Dozentin erzählt, da sie schließlich meine erste Liebe war. Sie hat mir so viel beigebracht und auch, wenn ich viel gelitten habe, war sie dennoch eine wichtige Person in meinem Leben." Wie kann es sein, dass ich ihre Situation so gut nachvollziehen kann? Es wirkt beinahe so, als würde sie mir aus der Seele sprechen. Ihre Hand liegt immernoch in meiner, weshalb mein Herz heftig pocht und mir allmählich die Luft abschnürt, was ich jedoch schlichtweg ignoriere. Gerade in diesem Moment ist Joanna mir gegenüber offener denn je, was ich nicht zerstören möchte. „Gab es vor Tomas denn noch jemanden?" „Nein, nicht wirklich. Ich habe lange gebraucht, um über meine Dozentin hinwegzukommen und war zudem mit meinem Studium beschäftigt, weshalb dafür aber auch keine Zeit war. Mehr als irgendwelche One Night Stands gab es nicht." Die gesamte Situation ist vollkommen irreal, weshalb ich nun doch an der Realität zweifel. Ich sitze hier mit meiner Lehrerin, in die ich verliebt bin und spreche über ihr Liebesleben. Doch ehe ich noch mehr darüber nachdenken kann, holt Joanna mich aus meinen Gedanken: „Ich bin seit sechs Jahren mit Tomas zusammen und vor vier Jahren haben wir geheiratet, wodurch ich mir gar keine Gedanken mehr über meine sexuelle Orientierung machen musste. Nun merke ich aber, dass dich dieses Thema interessiert und würde gerne wissen, ob du dir diesbezüglich schonmal Gedanken gemacht hast?" Ich nicke bestätigend, weshalb meine Lehrerin mich nun aufmerksam anschaut und bereit ist, mir zu zuhören. „Soweit ich mich erinnern kann, habe ich nie das für einen Mann empfunden, was Olivia mir die letzten Jahre immer mal wieder berichtet hat. Soetwas wie Schmetterlinge im Bauch kenne ich nicht durch eine männliche Person und ich bin auch nie rot angelaufen oder etwas dergleichen. Das ist alles neu für mich...", den letzten Satz flüstere ich lediglich, was ihr aber nicht entgeht. Ich habe Joanna soeben anvertraut, dass ich Gefühle für einen anderen Menschen habe und dieser nicht männlich ist. „Weißt du, du brauchst davor gar keine Angst haben. Liebe ist etwas ganz wunderbares und dabei spielt es keine Rolle, ob du dich in einen Mann oder in eine Frau verliebst. Im Grunde ist es dasselbe, solange du dich damit gut fühlst." Sie hat recht, aber die Situation ist nunmal viel komplizierter. Es geht nicht einfach um irgendeine Frau, sondern um meine verheiratete Lehrerin. „Zerbrech dir nicht immer über alles den Kopf.", muntert sie mich auf und streicht über meinen Handrücken, weshalb ich nun meinen Blick auf unsere Hände sinken lasse und nun das erste mal ihren Ehering betrachte. Ich lasse meinen Finger über den silbernen Ring streichen und lasse diesen kurzerhand drehen, ehe ich meine Finger mit ihren verschränke und ihr wieder in die grünen Augen schaue, die meine treffen. „Ich bin froh, dass du einen Mann wie Tomas gefunden hast und durch ihn Glück erleben darfst." Joanna schenkt mir ein Lächeln, senkt nun aber auch kurz ihren Blick auf unsere Hände, die nach wie vor ineinander liegen. Sie spielt gedankenverloren mit meinen Fingern, ehe sie den Augenkontakt wieder aufnimmt. „Ich wünsche dir dasselbe.", sagt sie und entlockt mir ein trauriges Lächeln. Ehe ich mich versehe, streicht sie mit ihrer freien Hand über meine Wange und beobachtet mich dabei, um all meine Reaktionen aufnehmen zu können. Daher versuche ich gegen all die Glücksgefühle anzukämpfen, um mir nichts anmerken zulassen. Doch wenn wir ehrlich sind, weiß sie bereits, was sie mit mir macht. Schon bei unserer ersten Begegnung hat sie das gewusst und ist mir dennoch so unglaublich nah gekommen. Und jetzt, wie wir uns in diesem Moment anschauen, würde ich sie am liebsten an mich ranziehen und ihre Lippen auf meinen spüren. Doch wie es das Schicksal will, klingelt genau jetzt Joannas Telefon und unterbricht diesen wundervollen und irgendwie intimen Moment zwischen uns. Sie greift daher nach ihrem Handy und nimmt den Anruf entgegen.

Unerreichbar nah / {txs}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt