Jack

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,,Wie soll ich Sie...dich, denn überhaupt nennen?''
Der Joker blickte von einer seiner Blaupausen auf.
Alice hatte aus dem Fenster geschaut.
Vielmehr, die wärmenden Sonnenstrahlen, die auf leisen Sohlen zu ihr heran geschlichen waren, auf ihrer Haut genossen.
Nun ruhten ihre grauen Pupillen auf dem vernarbten Antlitz des Chaos stiftenden Anarchisten. Zumindest glaubte sie, dass er sich an jener Stelle befand, zu der sie sah.
Es war nicht allzu einfach für sie auszumachen, wo genau er sich befand. Er war ziemlich ruhig, schien kaum zu atmen, nur das leise Rascheln seiner Pläne, hatten ihr Aufschluss darüber gegeben, wo im Raum er sich befinden könnte.
Nach ihrer kleinen Auseinandersetzung, hatten sich die Gemüter wieder weitestgehend beruhigt.
Und wenn man einmal davon absah, dass der Joker Alice entführt, sie gequält und dazu gebracht hatte, einen ihrer vertrautesten Freunde nieder zu stechen, ja, dann konnte man beinahe von einer verdreht-friedlichen Atmosphäre sprechen, die die beiden, sich im selben Raum befindlichen Parteien, umgab.
,,Joker? Soll ich...dich so nennen? Wenn es anscheinend dein Wunsch ist, einen vertrauteren Umgang herzustellen, dann erscheint mir ,,Joker'' doch eher unzureichend, nicht wahr? Er mag deinem Charakter alle Ehre machen, aber für alles andere wäre es doch eher kontraproduktiv.''
Der anmutige Stolz war in Alices Haltung zurückgekehrt.
Hoch erhobenen Hauptes begegnete sie dem Joker mit unbewegter Miene.
Ein kurzes, kaum seinem Charakter entsprechendes, leises, schnaubendes Lachen war zu vernehmen, ehe der Verbrecher, eine kurze Zeit, über das Gesagte nachdachte.
Dann wurden seine zerschnittenen Mundwinkel von einem breiten Grinsen in die Länge gezogen.
Er hatte einen Namen für sie.
Einen, der bekanntesten Mörder seiner Zeit; der seinem früheren in vielerlei Hinsicht, eins zu eins, entsprach.
,,Jack...du kannst mich Jack nennen.''
,,Einfach nur Jack?'', hinterfragte die junge Therapeutin und blinzelte genau einmal in seine Richtung.
,,Ja'', entgegnete ihr ehemaliger Patient. ,,Einfach nur Jack.''
Damit konnte Alice leben.
Sie musste es sogar.
Sie bezweifelte zwar stark, dass dies sein wirklicher Name war, aber es war zumindest irgendetwas. Ein Fitzelchen an Information, das so durchaus annehmbar war. Es war eine Hand, die er ihr gereicht hatte. Die sie wohl oder übel ergreifen würde.
Denn wenn sie an seiner Seite bestehen wollte - und das hatte sie sich fest vorgenommen: sich unter keinen Umständen von ihm zu jemandem formen zu lassen, der sie nicht war-, dann musste sie sich, aus eigenem Willen, ein Stück weit an ihn anpassen.
,,Weißt du, mein Liebling, sehr viele Menschen erliegen der falschen Annahme, dass über die ganze Weltgeschichte hinweg, immer nur die Starken überlebt haben. Ich möchte nicht sagen, dass das nicht zum Teil der Fall ist. Es gibt häufig jemand stärkeres, der die Schwachen unterjocht. Das ist leider so und ein Punkt unserer Geschichte, der sich wohl nie ändern wird. Aber überlebt haben im Laufe der Geschichte meist diejenigen, die sich am besten an ihre Umgebung anpassen konnten. Die gelernt haben sich den Umständen, sich ihrer eigenen Anlagen, Ressourcen und Situation entsprechend, weiterzuentwickeln.''
Eine frühe Lektion ihrer Vaters, die sie sich häufig ins Gedächtnis zurückgerufen hatte und ihr auch jetzt eine Stütze waren: Es überlebten in erster Linie nicht die Starken, sondern diejenigen, die dazu breit waren ihr eigenes selbst zu opfern, um es jeder x-beliebigen Situation entsprechend, zu verformen.

Anpassung. Verformung. Entwicklung.

Auch wenn Alice sich mit allen Mitteln an ihr früheres Selbst klammern wollte, wusste sie, dass sie es jetzt nicht mehr tun konnte. Sie musste in gewisser Hinsicht zu jemand anderen werden, um den Joker zu überleben. Um nicht aufgrund seiner zerstörerischen Lebensart zu Grunde zu gehen. Sie musste kämpfen. Auch wenn ihr Unterfangen von Anfang an zum Scheitern verurteilt sein mochte.
,,Hallo, Erde an Alice'', holte sie die Stimme des Clowns zum Boden der Tatsachen zurück.
Während sie in Gedanken versunken gewesen war, hatte er sich von seinen Plänen entfernt, war näher an sie heran getreten und hatte mithilfe eines mehrmaligen Schnipsen vor ihrem Gesicht, ihre Aufmerksamkeit auf sich zurück gelenkt.
Alice schaute zu ihm auf und fragte höflich nach, was der Unruhestifter von ihr gewollte hatte; was ihr wohl entgangen war.
Der Joker seufzte kurz und ließ sich dann in einem zerschlissenen, direkt ihr gegenüber liegenden Sessel nieder, nur, um sie wieder anzustarren — mit Augen so schwarz, wie die eines Wolfes, der für die Jagd geboren worden war.

Der Anarchist trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf der Armlehne herum, unschlüssig darüber, was er jetzt, in diesem Augenblick, überhaupt von ihr wollte.
Nun hatte er sie endlich in seinen Händen und wusste nichts mit ihr anzufangen.
Er wusste schon soviel über sie. Er kannte sie, er sah sie, so dass es, seiner Meinung nach, in dieser Hinsicht kaum noch etwas gab, das er noch nicht entdeckt hatte. Auch wenn er sie nicht immer verstand, gab es doch keine Information, die sein Gehirn noch nicht kategorisiert hätte.
Sie faszinierte ihn noch immer und höchstwahrscheinlich würde sich das niemals ändern, aber wie genau es nun weitergehen sollte, wusste er selbst nicht so genau.
,,Weißt du, was ich bin? Ich bin ein Hund, der Autos nachjagt. Ich wüsste gar nicht, was ich machen sollte, wenn ich eins erwische!''*, mit diesen und noch so vielen anderen Worten hatte er einst Harveys Seele vergiftet, um ihn dorthin zu treiben, wo er ihn hatte haben wollen.
Aber nun wirklich in der Situation zu sein, dass er nicht wusste, was er mit dem Objekt seiner Begierde anstellen sollte, war für den Joker etwas vollkommen neues.

Sein Weg hatte sich immer mit dem nächsten Schritt ergeben.
Jeder weitere hatte ihm einen neuen aufgezeigt.
Neue Pfade erzeugt, neue Winkel erleuchtet.
Doch nun tappte er selbst ein wenig im Dunkeln.
Als hätte er, auf dem weiten stürmischen Ozean, eine völlig neue Insel entdeckt, die es nun zu erforschen galt.
Die geheime Pfade besaß, auf denen noch niemand geschritten war.
Tiefe Höhlen, die noch völlig unbedarft vor ihm lagen.
Vielleicht, so dachte er sich, sollte er sich einfach hinein stürzen?
Vielleicht sollte er, wie er es schon so häufig getan hatte, seinem Instinkt folgen und den Dingen einfach ihren Lauf lassen?
Hinnehmen, was geschehen wollte.
Nehmen, was er kriegen konnte.
Nicht bereuen und nur nach vorne schauen.
Ja, dachte er, vielleicht sollte er genau das tun: sich ins Chaos stürzen und jeden anderen mit sich reißen.


~~~*~~~


Dass das Kleid, das Alice nun am Leibe trug, zu den etwas kostspieligeren Exemplaren seiner Art gehörte, merkte sie daran, dass es sich wie eine zweite Haut an ihre Rundungen schmiegte. Sie hatte auch bemerkt, dass es ziemlich schlicht war.
Sie hatte keine Rüschen oder irgendwelche Spitze daran ertasten können, aber billig, war es mit Sicherheit nicht. Sie ging sogar sehr stark davon aus, dass es das genaue Gegenteil war.
Mit sicherer Wahrscheinlichkeit von gestohlenem Geld gekauft, meldete sich Alice innere Stimme zu Wort, während sie den Saum des kleinen Schwarzens glatt strich.
Sie saß in einem Auto.
Sie wusste, dass einer seiner Handlanger hinterm Steuer Platz genommen hatte und dass der Joker neben ihr, in ihrer unmittelbaren Nähe, auf einem der Beifahrersitze saß. Was sie jedoch nicht bemerkte, war, wie sein Blick über ihre zarte Erscheinung glitt. Wie er sich, wie ein Insekt an süßem Nektar, an ihr labte. Dass sie in Flammen gestanden hätte, wenn sie seinen Blick nur bemerkt hätte.
,,Na, aufgeregt, Schätzchen?'', wisperte er, nachdem er sich ein Stück in ihre Richtung gelehnt hatte, in ihr linkes Ohr.
Sein heißer Atem streifte ihren Nacken, woraufhin sich die kleinen Härchen auf ihren bloßen Armen aufstellten.
Alice schwieg, versuchte ihr Herz im Zaum zu halten und suchte darin nach einer Antwort auf seine Frage; konnte, zu ihrer eigenen Verwunderung, nach kurzen Sekunden nur entgegnen: ,,Nein, das bin ich nicht'', denn irgendwo in ihrem Innern, tief in ihr vergraben, wusste sie, ahnte sie, dass sie das, was immer er auch noch mit ihr geplant hatte, alles, was noch folgen sollte, überleben würde. Dass er sie nicht ganz zerstören könnte.
Dass vielleicht genau das, ihre zukünftige Waffe gegen ihn wäre: sein Interesse.
Sein Amüsement.
Seine dunkle Faszination.
Sie wusste, heute würde er sie bestimmt noch nicht töten. Und ganz sicher nicht Morgen.
Vielleicht wäre dies eines Tages noch der Fall, das konnte sie noch immer nicht mit genauer Sicherheit sagen.
Aber jetzt, das ahnte sie, wollte er noch ein wenig mit ihr spielen.
Wollte er noch ein wenig an ihren filigranen Flügeln reißen.
Und das so lange, bis nichts mehr von ihr übrig wäre.



*Zitat des Joker aus dem Film ,,The Dark Knight''


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