Kapitel 76

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Chris und ich sind keine lange Zeit zusammen. Auch wenn wir uns bald vier Jahre näher kennen, so richtig etwas über den anderen Wissen wir seit etwa sieben Monaten. Als ich damals in der Halle angefangen habe zu arbeiten, war Levi eine der ersten, die mir die Geschichte mit ihren Vater erzählt hatte. Zur Sicherheit, dass ich nicht ein Thema anschneide, was ich nicht anschneiden sollte oder wollte. Wobei ich wohl kaum freiwillig über Familie anfange zu reden. Aber auch heute weiß ich kaum etwas über deren Vater. Einige Bilder habe ich gesehen, manche Geschichten gehört, aber Chris verliert selten ein Wort darüber, würde von sich aus niemals das Gespräch anfangen.

Daher ist es jetzt auch eines der ersten Male, dass ich überhaupt etwas über seinen Vater erfahre, was wirklich Familienintern ist. Bevor wir gefahren sind, hatte Heid die Blumen geholt, die sie mitnehmen wollte, hatte sich warm angezogen und auch ich habe mir meine Schuhe wieder zugebunden und die Jacke übergezogen. Während ich an meinen Auto den Werkzeugkoffer wieder verstaut habe, hat Hedi bereits auf den Beifahrersitz platzgenommen und nur darauf gewartet, dass ich dazukomme.
Juliette: Tut mir leid, dass ich nicht mit einer Heizung dienen kann."
Hedi: Das erinnert mich noch an das alte Auto von Andreas und Christian. Damals sind sie mit den alten Golf durch ganz Deutschland gefahren, haben damit ihre erste kleine Tour gespielt. Der hatte sowas auch noch nicht."
Den Wagen fuhr Chris nicht mehr lange, nachdem ich zur Firma gekommen bin. Er hatte damit einen Unfall, nichts großes, aber es hatte sich nicht mehr gelohnt, den reparieren zu lassen. Seitdem fährt er seinen Audi, den ich an solch kalten Wintertagen manchmal auch wieder vermissen will.
Juliette: Ich habe den damals noch aus der Nähe von Hamburg geholt, bevor ich hergezogen bin. In der Stadt brauchte ich sowas ja nicht unbedingt."
Hedi: Und dann zieht man in eine ländlichere Gegend und ein Auto wird ein dringendes Muss. Unsere Kinder haben daher auch alle ziemlich zeitnah ihren Führerschein gemacht, um hier in Bünde und Umgebung mobil zu bleiben."

Wie kann man die Gespräche mit seiner Mutter vermissen, wenn man sie selbst niemals hatte? Ich kann mich an keine normale Unterhaltung mit meiner Maman erinnern, weil es immer wieder darauf hinausgelaufen ist, dass sie mir entweder nicht zugehört hatte oder dass alles in einem großen Streit endete. Vielleicht ist das aber auch nur wieder das kleine Mädchen in mir, was sich immer wieder eine normale und heile Familie gewünscht und es nie bekommen hatte.

Mit den Anweisungen von Hedi habe ich es auch geschafft, dass wir unser Ziel zusammen heile erreichen konnten. Am Straßenrand war auch noch ein Platz frei, wo ich meinen Wagen abstellen konnte und dann konnten wir uns auf den Weg machen. In ihren Händen hält Hedi die Blumen fest und muss gar nicht mehr überlegen, wo sie langlaufen muss. Den Weg wird sie vermutlich blind ablaufen können.
Juliette: Wie lange ist es jetzt schon her?"
Hedi: Im September werden es 12 Jahre, seitdem er nicht mehr ist."
Zeit bedeutet eben nichts und auch wenn schon über ein Jahrzehnt vergangen ist, den innerlichen Schmerz wird man vermutlich niemals loswerden. Dieser wird für immer ein Teil von einem bleiben und man einzig damit lernen umzugehen.
Hedi: Christian redet nicht viel darüber, richtig?"
Sie schaut zur Seite und somit zu mir hin. Und ich schüttle gleich leicht mit den Kopf, weil selbst wenn das Gespräch irgendwie anfing, weil ich beispielsweise ein Bild von seiner Familie bei ihm in der Wohnung gesehen habe, er hat das Thema oft schnell gewechselt.
Hedi: Für Andreas und Christian war es sehr schwer. Wir hatten alle eine enge Beziehung zu Werner, aber die drei haben zum Teil tage- und nächtelang in der Werkstatt gesessen, um an Illusionen zu arbeiten. Das, was sie heute erreicht haben, hat er leider nie erlebt."
Wortlos gehe ich neben ihr her, weil ich mir vorstellen kann, wie schmerzhaft so ein Verlust sein kann und ich habe nichts, was ich dazu sagen könnte. Mein Kopf ist einfach leer.
Juliette: Als Kind ist es vermutlich das schlimmste, ein Elternteil zu verlieren."
Hedi: Ja...geht es deinen Eltern noch gut?"

Vor einem Jahr, als ich damals mit Chris auf einen der Feldwege spazieren gegangen bin, stoppte ich bei einer solchen Frage, weil sie wieder das aufreißt, was ich seit Jahren tief in mir verstecket gehalten habe. Mittlerweile fühlt es sich aber wieder mehr wie ein Teil von mir an, sodass es noch immer schmerzt aber anders. Hedi bleibt dieses Mal einfach stehen und schaut mich sofort an. Ich komme also gar nicht dazu, auch nur irgendwas zu sagen.
Hedi: Es tut mir leid, Juliette. Christian hatte uns vor Weihnachten noch gesagt, dass wir das Thema nicht ansprechen sollten, weil...ich habe nicht nachgedacht."
Juliette: Ist okay, ich hatte mich schon gewundert, warum es damals keiner angesprochen hatte und hätte es mir eigentlich denken können."
Wir beide gehen wieder weiter, haben unser Ziel gleich vermutlich erreicht und das ist der Moment, wo Hedi sich langsam an das Thema rantastet. Mal wieder schaut sie zu mir rüber, wobei ich meinen Blick vorerst auf den Weg vor uns gerichtet lasse.
Hedi: Hast du gar keinen Kontakt mehr?"
Juliette: Seit 20 Jahren schon nicht mehr. Wenn etwas sein würde, dann gibt mir Baptiste Bescheid, aber ich selbst habe kein Kontakt zu irgendjemanden aus meiner Familie."
Hedi: Ich verstehe solche Menschen nicht."
Da kann ich sie mit auf die Liste setzen, weil ich mittlerweile genug Menschen getroffen habe, die mir genau das gesagt haben und ich verstehe es am aller wenigsten.
Hedi: Wenn man sich für ein Kind entscheidet, dann liebt man es bedingungslos. Uns wäre es damals egal gewesen, ob unsere Kinder mit einer Frau oder einen Mann nach Hause gekommen wären, die Nationalität genauso bedeutungslos. Wir wollten immer nur, dass sie gesund und glücklich sind."

Leicht lächelnd schaue ich zu ihr rüber, will mich stumm bei ihr bedanken und nach wenigen weiteren Schritten kommen wir dann am Grab von Werner an. Wie sie es vorher gesagt hatte, wollte sie die alten Blumen, die von seinem Geburtstag dort noch standen, mit neuen austauschen und ich blieb still hinter ihr stehen.
Juliette: Auch das sieht genauso schön gestaltet aus wie dein Vorgarten. Manchmal würde ich mir wünschen, dass ich das auch in meinem Garten schaffen würde."
Nachdem Hedi einmal alles richtig hingelegt hat, kommt sie wieder zu mir zurück, schaut einmal darauf, dass alles wieder gut aussieht und wendet sich anschließend mit einem leichten Lächeln zu mir.
Hedi: Ich könnte euch dabei doch helfen."
Juliette: Sicher?"
Hedi: Natürlich! Du hilfst mir in meinem Haus und ich kann euch dann helfen. Ich spreche das mit Christian ab und dann finden wir vor Ostern bestimmt einen Nachmittag, wo wir uns dafür Zeit nehmen können...

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