Kapitel I

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     »Hey darling, get down and sit on your knees, I've got something to tell you, your world is bigger than you think, break out, and you're away from home, away from home...« Textpassage aus dem Lied »Home« von der Band »Bel Blair«

     Der alte Kombi rumpelte über den schmalen, unebenen Weg, jede Bodenwelle ließ den Wagen durchrütteln. Unruhig rutschte ich auf meinem Sitz hin und her. Die Bierdosen im Kofferraum klapperten bei jeder Unebenheit, und die Müdigkeit der langen Fahrt saß mir tief in den Knochen. Wir waren seit Stunden unterwegs, und der Stress hatte sich inzwischen in meinen Schultern festgesetzt. Der Tag hatte nicht so begonnen, wie ich ihn mir vorgestellt hatte... Erst kam ich wegen meines nervigen Nebenjobs zu spät aus dem Café und dann hatten wir uns auch noch verfahren. Aber jetzt, wo die Lichter des Festivalgeländes endlich in Sicht kamen, konnte ich langsam loslassen...

     Die Sonne ging allmählich unter, der Himmel leuchtete in kräftigem Orange und Rosa - ein wunderschöner Anblick! Die dumpfen Bässe dröhnten in der Ferne, vibrierten in der Luft. Der Geruch von Lagerfeuern, vermischt mit einer süßen Note, die an frisch gegrilltes Essen erinnerte, drang durch die offenen Fensterscheiben... Es lag definitiv ein Hauch von Abenteuer in der Luft, so als würden wir endlich dem Alltag entkommen. Ich zumindest meinem...

     »Noch fünf Minuten in diesem Auto, und ich verliere den Verstand«, murmelte Noah vom Fahrersitz aus, als er das Lenkrad drehte und einer weiteren Bodenwelle auswich, und holte mich unweigerlich zurück aus meinen schwebenden Gedanken. Noah war mein bester Freund seit der Schulzeit. Mit seinen kurzen, zerzausten, blond gefärbten Haaren und den leuchtend grünen Augen sah er immer ein bisschen unordentlich aus. Aber das war typisch für ihn. Er trug sein graues Kapuzen-Sweatshirt, das ihm viel zu groß war und eine ausgeleierte Jeans. Er wirkte immer, als könnte ihm nichts wirklich etwas anhaben - ein Gefühl, das ich meistens nur bei ihm hatte...

     Ich grinste und lehnte mich zurück. »Wer hat eigentlich entschieden, so weit draußen zu parken? Das warst du, oder?«

     »Vielleicht...«, entgegnete er, ohne den Blick von der staubigen Wiese zu nehmen. »Aber nachdem wir uns so lange verfahren haben, hätte ich auch nichts dagegen, direkt hier zu campen.«, witzelte er.

     Lily, meine beste Freundin, streckte sich auf der Rückbank. Sie warf Noah einen strengen Blick zu und zog eine Augenbraue hoch. Ihre braunen Haare, die im Licht der untergehenden Sonne schimmerten wie geröstete Kastanien, waren locker zu einem Dutt zusammengebunden und sie trug ein schlichtes weißes Top und Jeansshorts - entspannt und doch immer stilsicher. »Wir hätten uns nicht verfahren, wenn du auf das Navi gehört hättest. Aber nein, du wolltest ja deinen natürlichen Instinkten folgen.«

     Noah schnaubte und schüttelte den Kopf. »Natürliche Instinkte haben uns auch dahin gebracht, dass wir die Erde besiedeln konnten. Ein bisschen mehr Vertrauen, bitte...«

     »Oder du hättest einfach aufs Navi geschaut. Dann wären wir schon längst hier gewesen«, sagte ich und grinste.

     Lily studierte Architektur und führte eine Fernbeziehung mit ihrem Freund Tyler, der an einer anderen Universität Biologie studierte. Wegen den Klausuren hatten sie sich seit Wochen nicht mehr gesehen... Ich wusste, wie sehr sie sich auf das Wiedersehen freute. »Kein Wunder, dass wir uns verspätet haben. Wir hatten alles dabei, was uns hätte helfen können. Und du vertraust deinem Bauchgefühl«, sagte sie neckisch und schaute dabei zu Noah.

     Noah drehte sich halb um und warf uns im Rückspiegel einen gespielten, ernsten Blick zu. »Ich sag's ja, es ist mein Abenteuergeist. Aber hey, wir haben's doch geschafft, und wenn wir heute Nacht neben einem Dixiklo schlafen müssen, geb ich's zu... Dann war das wohl mein Fehler.« Das Bild brachte mich zum Lachen. Ich stellte mir Noah vor, wie er heldenhaft versuchte, das perfekte Zelt zu finden, nur um am Ende doch neben den Toiletten zu landen. Aber ich war zu müde, um ihn weiter zu necken. Der Tag war lang genug gewesen.

Als der Regen fielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt