(Auroras Sicht)
Ich hätte gehen sollen. Jeder normale Mensch hätte längst das Weite gesucht, besonders nach einem Blick wie dem von Rex. Doch irgendetwas hielt mich hier, festgefroren vor der schäbigen Bar, die von der Dunkelheit der Nacht umhüllt wurde. Die Straßenlaternen warfen lange Schatten, und die wenigen Menschen, die an mir vorbeigingen, sahen mich nicht einmal an.
Aber ich konnte ihn spüren. Rex war noch da, irgendwo hinter mir, und sein Blick brannte auf meiner Haut. Es war, als hätte er mich durchschaut, tiefer als jeder andere zuvor. Vielleicht war es das, was mich so nervös machte. Er war mehr als nur ein Mann, der in der Unterwelt überlebte – er schien Teil von ihr zu sein, als wäre die Dunkelheit selbst in ihm verankert.
Ich wusste, dass ich hier nicht hergehörte, aber ich wusste auch, dass ich nicht ohne Antworten nach Hause gehen konnte. Mein Bruder, Ethan, war in etwas verwickelt, das ihn zerstörte. Und jetzt zog es mich mit hinein.
Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, hörte ich Schritte hinter mir. Langsam, gemächlich, wie jemand, der die Zeit auf seiner Seite hatte. Ich drehte mich um, und da war er – Rex, nur wenige Schritte entfernt. Seine Zigarette glimmte rot auf, und der Rauch umrahmte sein Gesicht in schattigen Schwaden.
„Ich dachte, du wärst schon weg", sagte er leise, seine Stimme klang wie eine Warnung, aber auch wie eine Herausforderung.
„Ich kann nicht gehen", antwortete ich, bevor ich darüber nachdenken konnte. „Nicht, bevor ich weiß, was mit Ethan los ist."
Er schnaubte, als hätte er das schon erwartet. „Ethan ist dein Problem. Nicht meins. Und ganz sicher nicht das von jemandem wie dir."
„Jemandem wie mir?" Ich verschränkte die Arme vor der Brust, überrascht über meine eigene Auflehnung. „Ich weiß, dass ich nicht hierhergehöre, aber Ethan ist mein Bruder. Ich werde nicht einfach zusehen, wie er sich in diese Dunkelheit hineinziehen lässt."
Rex trat näher, bis nur noch wenige Zentimeter zwischen uns lagen. Er war größer, breiter, und seine Präsenz erdrückte mich beinahe. Sein Blick bohrte sich in meine Augen, als ob er versuchte, etwas in mir zu erkennen, das ich selbst nicht sah.
„Es gibt keinen Weg zurück aus dieser Dunkelheit, Aurora", sagte er, und seine Stimme klang jetzt fast bedauernd. „Ethan ist tief drin. Und wenn du nicht aufpasst, wirst du es auch sein."
Ich hielt seinem Blick stand, auch wenn mir das Herz bis zum Hals schlug. „Und du? Bist du auch darin gefangen?"
Ein kurzes, schiefes Lächeln zuckte über seine Lippen, aber es erreichte seine Augen nicht. „Ich war schon immer hier. Ich habe nicht mal mehr den Willen, einen Ausweg zu suchen."
In diesem Moment wusste ich, dass er die Wahrheit sagte. Aber ich erkannte auch etwas anderes: Er war noch nicht völlig verloren. Da war ein Funke in ihm, etwas, das ihn am Leben hielt, auch wenn er es selbst nicht mehr sehen konnte. Ich wusste nicht, warum, aber ich hatte das Gefühl, dass ich ihn noch tiefer hineinziehen oder – wie absurd es auch klingen mochte – vielleicht sogar retten konnte.
„Niemand ist völlig verloren", flüsterte ich. „Nicht mal du."
Er starrte mich an, als wäre ich verrückt. „Du kennst mich nicht."
„Vielleicht nicht", sagte ich. „Aber ich kenne die Dunkelheit."
Er sah mich lange an, bevor er etwas in seinen Augen flackern ließ, das ich nicht deuten konnte. Dann drehte er sich abrupt um, ging ein paar Schritte und warf die Zigarette auf den Boden, trat sie mit der Stiefelspitze aus.
„Du willst Antworten über Ethan?" fragte er und drehte sich noch einmal um. „Dann komm morgen Nacht zu den Docks. Aber glaub mir, du wirst nicht mögen, was du herausfindest."
Mit diesen Worten verschwand er in der Dunkelheit, und ich stand allein in der kalten, feuchten Nacht. Aber ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Ich musste hingehen.
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Shadows of Redemption
RomanceAurora Winters hat ihr Leben lang im Schatten gelebt - umgeben von Verlust und den dunklen Geschäften ihres Bruders. Als sie versucht, die Wahrheit über seine gefährliche Welt herauszufinden, trifft sie auf Rex Blackwood, einen Mann, der sich längst...