Es waren die Fußgänger, die neugierig die Radfahrer beobachteten und die Radfahrer, die ihrerseits ein Auge auf die Fußgänger warfen. Kevin aber zählte die vorbeifahrenden Kinderwägen. Es war nicht so, als hätte er Kinder besonders gern oder würde sie außerordentlich geringschätzen. Es war nur so, dass er nichts Besseres zu tuen wusste.
Kevin hatte schon dreiundzwanzig Kinderwägen gezählt. Es waren mehr als sonst, denn die Sonne schien und die Temperatur war mild. Es hatte lange geregnet, da war auch Kevin häufig zu Hause geblieben. Doch es wurde Winter und Kevins warme Jacke war dieses Frühjahr auseinandergefallen. Er hatte sich überlegt eine Neue zu kaufen, allerdings war er sich nicht sicher, ob er überhaupt raus wollte diesen Winter. Er könnte dann immer noch eine neue Jacke kaufen, sagte er sich. Ohnehin hatte es keinen Sinn so weit in die Zukunft zu planen. Kevin war nicht mehr der Jüngste. Nun war er auch noch nicht richtig alt. Aber er war in einem Alter, in dem man sich Gedanken über das Sterben machte. Kevin hatte nichts gegen den Tod, er war ihm oft begegnet, in unterschiedlichster Form. Nie war er allein gekommen. Nein, er war immer in Begleitung. Seine liebste Begleitung war die Krankheit, doch auch das Alter und die Unfälle, die häufig als „entsetzlich" bezeichnet wurden, waren nicht selten dabei.
Kevin wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich ein Kind neben ihn auf die Bank setzte. Es ließ gebührend abstand und legte seinen Stock, den es wohl gesammelt haben musste, unter sich auf den Boden. Kevin sah weg, er spürte, wie das Kind ihn beobachtete. „Was machen Sie da?", fragte das Kind. Nun das war eine unschuldige Frage, doch sie mochte noch so unschuldig wirken, sie war schwer zu beantworten. Es war eine dieser Fragen wie „Wie geht es Ihnen?" oder „Was wollen Sie?". Es war eine der Fragen, die Kevin beim besten Willen nicht beantworten konnte. Er hatte schon häufig darüber nachgedacht, doch er konnte sich selbst nie eine zufriedenstellende Antwort geben. Auch wenn er keine Antwort wusste, wollte er dem Kind trotzdem eine geben. Es war nicht die Schuld des Kindes, dass es eine solche schwierige Frage stellte, es war Neugier gepaart mit Unwissen, welches für derart Fragen verantwortlich war. Also antwortete Kevin: „Ich sitze hier und zähle", und weil das keine richtige Antwort war, fügte er hinzu: „es gibt nicht viel zu tuen für einen alten Mann wie mich." Das Kind sah auf seine Füße, vermutlich dachte es über die Worte nach. Aber es gab nicht viel über das es da nachdenken konnte, also sah es wieder auf und sagte: „Ich bin vorgerannt und muss jetzt warten bis Oma und Opa mich einholen. Die sind auch alt. Manchmal sitzen sie auch einfach nur da." Kevin nickte, denn mehr viel ihm nicht dazu ein. Er hatte keine Enkelkinder. Er hatte nicht einmal Kinder. Das sagte er jetzt. „Sind Sie dann ganz allein?", fragte das Kind. Ganz allein war Kevin nicht er wohnte in einer sogenannten Seniorenresidenz. Allerdings war das nur ein hübscher Begriff für Altersheim. Es gab Spieleabende und auch gemeinsame Essen, wenn man wollte. Kevin wollte nicht. Die Menschen dort erzählten von ihren Kindern und Kindeskindern, von toten Geschwistern und vergangenen Abenteuern. Sie waren alt und lebten in ihrer Erinnerung. Daran war Nichts falsch, aber Kevin wollte nicht nur zuhören und nicken und er selbst hatte keine Geschichten zu erzählen. Also nein, er war nicht allein, aber wie sollte er das erklären? Das Kind seufzte tief, als würde in diesem einen Atemzug die ganze Welt auf seinen Schultern ruhen. Es schüttelte den Kopf und meinte dann: „Opa hat Kuchen gebacken. Später macht Oma mir Kakao dazu. Meine Oma macht den besten Kakao. Sie können etwas abhaben, wenn Sie wollen." Ein nettes Kind dachte Kevin, er hatte auch schon ganz andere getroffen. Letztens erst hatten drei Mädchen ihn mit Eicheln abgeworfen, sogar noch als er weggegangen war.
Wo sind denn die Großeltern des Kindes, fragte sich Kevin nun. Das Kind war wohl sehr schnell und weit vorausgelaufen. Kevin hätte ihm das gar nicht zugetraut mit diesen kurzen Kinderbeinen. Doch der Weg vor ihnen war leer. Es war um die Mittagszeit und die Menschen waren in ihre Häuser zurückgekehrt, um zu essen und zu ruhen. Kevin sollte auch nach Hause gehen, doch er wollte das Kind nicht alleine sitzen lassen. Nun wahrscheinlich war es ihm egal, es würde wohl hier sitzen bleiben und auf seine Großeltern warten. Doch irgendetwas hielt Kevin zurück, er konnte nicht genau sagen, was es war. Das Kind fing an mit den Beinen zu schlenkern. Das hatte Kevin auch immer gemacht, er musste daran denken wie enttäuscht er gewesen war, als seine Beine bis auf den Boden reichten und er nicht mehr damit schlenkern konnte. Langsam zogen Wolken auf und ohne die Sonne wurde es kühler. Kevin beobachtete die Formen, die die Wolken bildeten, als sie an ihnen vorbeizogen. Er zeigte mit seinem Finger nach oben: „Sieh nur, da galoppiert ein Pferd an der Sonne vorbei." Das Kind folgte mit den Augen dem ausgestreckten Finger und lachte: „Vielleicht denkt es die Sonne ist aus Stroh und will sie essen."
Die Zeit verging, die Wolken wurden dichter und die Sonne verschwand. Noch immer saßen Kevin und das Kind auf der Bank. Kevin konnte nicht sagen wie viel Zeit vergangen war, aber er war müde geworden und es viel ihm schwer die Augen offen zu halten. „Schlafen Sie ruhig. Oma und Opa werden jeden Moment hier sein", versicherte ihm das Kind freudig. Kevin wollte nicht auf der Bank einschlafen, er wusste, dass er davon schreckliche Nackenschmerzen bekommen würde. Außerdem konnte er die Großeltern des Kindes nirgendwo entdecken und es würde bestimmt gleich anfangen zu regnen. Kevin machte sich daran aufzustehen. Seine Glieder fühlten sich nach dem langen Sitzen schwer an und als würden sie ihm nicht mehr gehören. „Bleiben Sie.", sagte das Kind. Kevin sah in seine Augen, sie waren wie tiefe, dunkle Brunnen. „Mir ist kalt und ich bin müde, ich gehe lieber Heim", widersprach Kevin also. „Nein", das Kind schüttelte seinen Kopf „Sie können nicht gehen. Warten Sie noch einen Moment, gleich wird Ihnen wieder warm", versicherte ihm das Kind. Wovon es da wohl sprach, fragte sich Kevin. Er spürte, wie auch seine Gedanken träge wurden, wenn er jetzt nicht aufstand, würde er sicherlich einschlafen. Doch tatsächlich konnte er fühlen, wie wieder wärme in seine Hände und Füße floss. „Wie seltsam", dachte sich Kevin. So viel Gefühl hatte er schon lange nicht mehr in Händen und Füßen gehabt. Er stand auf mit dem festen Entschluss jetzt wirklich Heim zu gehen. Erstaunt musste Kevin sich umsehen, die Wolken waren verschwunden und auch die Sonne schien wieder. Der Weg war bevölkert mit munter plaudernden Fußgängern und klingelnden Fahrrädern. Eltern fuhren ihre Kinder wieder spazieren und es herrschte reger Betrieb. Kevin sah zu der Bank, auf der er gerade noch gesessen hatte, sie war leer.
Wo war das Kind hin?
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Eine langweilige Geschichte
Short StoryKevin beobachtet und bekommt dabei Gesellschaft. Wer ist das Kind, das sich neben ihn gesetzt hat?