Wurzeln schlagen

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Die Monate vergingen, und India fand sich immer häufiger in Madrid wieder. Das Leben zwischen zwei Städten war anfangs aufregend und herausfordernd gewesen, aber allmählich begann sich die Idee, einen dauerhaften Wohnsitz in Madrid zu haben, immer vertrauter anzufühlen. Sie hatte die ersten Schritte vorsichtig gemacht – indem sie Wochen hier und da verbrachte –, aber je länger sie dort blieb, desto mehr stellte sie fest, wie sehr sie sich bereits an die Stadt gewöhnt hatte.

München blieb nach wie vor ihr beruflicher Anker, aber Madrid begann sich wie das Herzstück ihres Privatlebens anzufühlen. Die spanische Hauptstadt inspirierte sie auf eine Weise, die sie zuvor nicht erwartet hatte. Die Straßen, die Menschen, die lebendige Atmosphäre – all das gab India ein Gefühl von Freiheit und Kreativität. Sie begann, sich vorzustellen, wie es wäre, dauerhaft hier zu leben und ihre Karriere als Autorin weiterzuverfolgen.

Eines Tages, während sie an einem sonnigen Nachmittag in einem kleinen Café in Madrid saß, erreichte India eine Nachricht von ihrem Verleger. Es ging um ihr nächstes Buch und eine anstehende Lesetour in Deutschland. Sie liebte ihre Lesungen, das Publikum, die Möglichkeit, ihre Arbeit vorzustellen – doch etwas hatte sich verändert. Während sie die Nachricht las, spürte sie, dass ihr Herz bei dem Gedanken, für längere Zeit nach Deutschland zurückzukehren, nicht mehr so sehr aufgeregt war wie früher.

Jamal, der sich neben ihr in das Café gesetzt hatte, bemerkte ihre nachdenkliche Miene und fragte: „Alles in Ordnung?"

India schaute auf und lächelte leicht. „Ja, es ist nur... Ich habe gerade die Termine für meine nächste Lesetour bekommen. Und es fühlt sich anders an als sonst."

„Anders wie?" fragte Jamal und legte eine Hand auf ihren Arm.

„Früher hätte ich mich sofort darauf gestürzt. Aber jetzt... ich weiß nicht. Der Gedanke, wieder für Wochen weg zu sein, fühlt sich nicht richtig an," gestand sie.

Jamal sah sie lange an, bevor er vorsichtig sagte: „Vielleicht liegt es daran, dass du angefangen hast, hier Wurzeln zu schlagen. Vielleicht fühlt sich Madrid langsam wie dein Zuhause an."

India lehnte sich zurück und dachte über seine Worte nach. Er hatte recht. Madrid war mehr und mehr zu einem Ort geworden, an dem sie sich zugehörig fühlte. Aber der Gedanke, ihr Leben in München komplett aufzugeben, bereitete ihr noch immer Unbehagen.

„Es ist komisch," sagte sie schließlich. „Ich dachte immer, dass München mein Zuhause ist, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher."

„Das muss es auch nicht sofort sein," antwortete Jamal. „Du kannst beides haben, zumindest für eine Weile. Es gibt keine Regel, die besagt, dass du dich sofort entscheiden musst."

India nickte langsam. Jamal hatte recht – sie musste sich nicht sofort festlegen. Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto stärker wurde das Gefühl, dass Madrid nicht nur ein vorübergehender Ort für sie war.

In den kommenden Wochen nahm India ihre Arbeit ernsthaft in Angriff. Sie schrieb von Jamals Wohnung aus, entdeckte neue Cafés und Arbeitsräume in der Stadt und schaffte es, ihre Verpflichtungen in Deutschland und Spanien miteinander zu verbinden. Es fühlte sich fast so an, als würde sie ein doppelt verankertes Leben führen – eines, das zwischen München und Madrid hin- und herpendelte, aber in beiden Städten funktionierte.

Doch es wurde immer offensichtlicher, dass die Zeit, die sie in Madrid verbrachte, bedeutete, dass sie sich stärker an diese Stadt band. Sie entwickelte Freundschaften, lernte die Stadt besser kennen und fing an, sich wirklich als Teil davon zu fühlen. Jamal war eine große Stütze, aber es war nicht nur seine Anwesenheit, die sie in Madrid hielt – es war die Stadt selbst, die sie auf eine Weise einnahm, die sie nicht erwartet hatte.

Eines Abends, als India und Jamal nach einem langen Tag auf seinem Balkon saßen und den Blick über die Stadt schweifen ließen, kam das Gespräch erneut auf ihre Zukunft. Der Sonnenuntergang tauchte den Himmel in ein warmes Orange, und eine sanfte Brise wehte über den Balkon.

„Ich denke, ich bin bereit," sagte India plötzlich, ihre Stimme fest, aber ruhig.

Jamal drehte sich überrascht zu ihr um. „Bereit wofür?"

„Nach Madrid zu ziehen," antwortete sie mit einem leichten Lächeln. „Ich meine, wirklich zu ziehen. Nicht nur ein paar Wochen hier und da. Ich will sehen, wie es ist, hier dauerhaft zu leben."

Jamal sah sie einen Moment lang an, als wollte er sicherstellen, dass sie es ernst meinte. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Meinst du das wirklich?"

India nickte. „Ja, ich denke, es ist an der Zeit. Ich habe mich hier wohlgefühlt, und je länger ich hier bin, desto mehr merke ich, dass ich hier sein möchte. Es fühlt sich richtig an."

Jamal griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft. „Das macht mich unglaublich glücklich. Aber bist du sicher, dass du nicht das Gefühl haben wirst, etwas in München aufzugeben?"

„Ich glaube nicht, dass ich München komplett aufgeben muss," sagte India. „Ich werde immer wieder dort sein, für Lesungen und um meine Arbeit zu erledigen. Aber ich will, dass mein Hauptwohnsitz hier ist – bei dir. Ich denke, wir sind an dem Punkt, an dem wir es versuchen sollten."

Jamal lächelte breit und zog sie in eine Umarmung. „Das ist die beste Nachricht, die ich je gehört habe."

India lehnte sich an ihn und atmete tief durch. Es fühlte sich an, als wäre sie endlich bereit, diesen großen Schritt zu machen. Madrid war nicht mehr nur ein Ort des Übergangs – es war zu ihrem Zuhause geworden, und mit Jamal an ihrer Seite konnte sie sich vorstellen, hier ein neues Kapitel ihres Lebens zu beginnen.

Die nächsten Wochen waren geprägt von Plänen und Vorbereitungen. India begann, ihre Wohnung in München aufzugeben und den Umzug nach Madrid zu organisieren. Sie behielt jedoch einige Kontakte in Deutschland und plante weiterhin regelmäßige Besuche, um ihre Karriere dort fortzusetzen. Doch Madrid würde nun ihr Hauptwohnsitz sein.

Der Tag des Umzugs war voller Aufregung und ein wenig Wehmut. Als India ihre letzten Sachen packte und sich von ihrer Wohnung in München verabschiedete, fühlte sie einen Moment der Unsicherheit. Doch als sie in den Flieger nach Madrid stieg und das Flugzeug abhob, wusste sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Als sie in Madrid landete, wartete Jamal bereits am Flughafen auf sie. Sie umarmten sich lange, und India spürte, wie sich die letzten Zweifel in Luft auflösten.

„Willkommen zu Hause," flüsterte Jamal in ihr Ohr, und India wusste, dass sie genau dort war, wo sie sein sollte.

Unbekannte WegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt