Kapitel 9: Wie in alten Zeiten

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„Wo gehen wir eigentlich hin?", fragte ich, nachdem wir vielleicht eine Stunde lang auf einem Feldweg geradeaus gelaufen waren. Sanemi grinste süffisant: „Das wissen wir selbst nicht. Wohin der Wind uns trägt..." Wie bitte?! Giyu lachte laut auf, als er meinen Gesichtsausdruck sah: „Das ist ein Junggesellenabschied. Es ist doch nicht mehr lustig, wenn alles geplant ist. Sei spontan!" Ich blickte mich um, mein gewohntes Viertel hatten wir schon vor längerer Zeit hinter uns gelassen, waren aber noch kein einziges Mal abgebogen. Die Landschaft war so anders, kein einziger Berg in der Ferne kam mir mehr bekannt vor. Endlich teilte sich der Weg. Wir mussten eine Entscheidung treffen. Sanemis Gesichtsausdruck war nachdenklich, bevor er sich zu mir wandte: „Normalerweise müsstest du jetzt entscheiden, aber du würdest den langweiligeren Weg nehmen. Also spielen wir LDSE." Keine schlechte Idee. Was LDSE ist, fragt ihr mich? Es bedeutet so viel wie „Lass die Schlange entscheiden". Also nahm ich Kaburamaru vorsichtig von meinem Hals. Er zischte widerstrebend, ließ sich aber auf dem Boden absetzen. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass Kaburamaru schlau war. Schlau war untertrieben, er war hochintelligent. „Also, mein Freund... Welchen Weg nehmen wir?", fragte ich ruhig, betend er würde einen Weg nehmen, welcher uns bald irgendwohin führen würde. Kaburamaru begutachtete eine ganze Weile lang die Abzweigung, blickte noch einmal kurz zu mir auf und als ich nickte, kroch er zu dem linken Weg. „Die Schlange hat gesprochen!", jolte Sanemi, nahm wieder seine Tasche in die Hand, schritt voran. Ich nahm Kaburamaru auf und er rollte sich wieder schützend um meinen Hals.

Nach vielleicht weiteren 3 Stunden kamen wir an einen Bach und ich ließ mich im Schatten eines Ahornbaumes nieder: „Ich gehe heute keinen Schritt mehr." Giyu setzte sich neben mich und streckte seine Beine von sich. Ich blickte zu der Provianttasche hinüber: „Ich kriege langsam Hunger. Was gibt es denn alles?" Sanemi lachte: „Nichts..." „Wie bitte!?", meine Stimme hatte einen ausgehungerten Unterton. Gestern hatte ich extra nichts gegessen, weil ich dachte, hier erwarte uns ein Festmal. Giyu öffnete langsam sein rechtes Auge: „Wir haben nichts dabei. Punkt." „Wieso denn nicht?" Sanemi setzte einen wissenden Gesichtsausdruck auf, strich sich über einen fiktiven Bart: „Die Natur wird uns nähren." Selbst Kaburamaru zischte ungeduldig. Ich seufzte: „Sicher habe ich Trockenfleisch für dich dabei, Kumpel." Also bewegte ich mich langsam zu meiner Tasche, zog sie auf, beförderte Schlangennahrung ans Tageslicht. Dann stach mir etwas unter Kaburamarus Nahrung ins Auge. Es war ein kleiner, eilig geschriebener Zettel:

Lieber Iguro!

Ich dachte, ich gebe dir zur Sicherheit was für den Weg mit. Ich habe gesehen, dass du gestern nichts gegessen hast und machte mir Sorgen. Anbei liegt ein kleiner Snack für den Weg. Ich hoffe, es schmeckt.

Pass auf dich auf,

Mitsuri

PS: Sei so lieb und geb den anderen auch was davon ab ;)


Ich schob den Zettel beiseite und traute meinen Augen nicht. Meine Verlobte war doch tatsächlich so lieb gewesen und hatte ein Lunchpakett gemacht. Ich entdeckte gekochte Kartoffeln, ein wenig Süßes, Salat, Brote mit Belag. Ja, sie hatte sich sogar die Mühe gemacht und Onigiri zubereitet. Insgeheim schickte ich ein Dankesgebet an meine zwar chaotische, aber liebevolle Zukünftige. Dann nahm ich vorsichtig das Pakett aus der Tasche und rief: „Leute, ich habe Proviant!" Giyu Kopf fuhr so schnell hoch, dass ich ihn nicht mitverfolgen konnte. Mein Freund setzte sich kerzengerade hin, stand auf, trottete zu mir hinüber. Ich sah, wie seine Augen erst den Zettel musterten, dann aufleuchteten. Ich klopfte neben mir auf die Wiese: „Setz dich und iss, soviel du willst. Es ist genug da." Auch Sanemi hatte sich langsam genähert, hatte sich unmerklich ein Onigiri geschnappt. Sein Miene erhellte sich augenblicklich: „Hat Mitsuri das gemacht? Es ist traumhaft lecker." Ich überlegte und es war etwas dran... Wo hatte sie kochen gelernt? Immerhin konnte Mitsuri nicht wirklich kochen, außer vielleicht Pfannkuchen. Woher kamen diese Speisen? Ich drehte langsam den Zettel in meiner Hand hin und her, bis mir auf der Rückseite eine Anmerkung auffiel:

PSS: Das Essen stammt von Kanao. Sie hat es gestern für den Mädelstreff gemacht und ich durfte etwas mitnehmen. Bitte gib mir wieder Unterricht, sobald du zurück bist. Hab dich lieb.

So war das also... Ich zuckte mit den Schultern. Diese Tatsache änderte ja nichts daran, dass Mitsuri mir das Essen eingepackt hatte. Rein technisch gesehen war sie noch immer eine Lebensretterin. Währenddessen hatten Giyu und auch Sanemi ordentlich reingehauen. Mist! Ich musste mir meinen Anteil sichern! Also stürzte ich mich ins Gefecht um das Essen meines Lebens.

Gegen Abend hatten wir uns um ein Lagerfeuer herum gesetzt, hielten selbst erlegte Fische in die Flammen. Es roch wirklich gut. Ich zog den Duft der brutzelnden Tiere ein. Giyu blickte nachdenklich in den Nachhimmel hoch: „Ich kann noch immer nicht glauben, dass das alles hier vor 6 Monaten nicht vorstellbar gewesen wäre... Damit endet unsere Reise wohl..." „Aber wir haben seitdem so viel dazugewonnen", ich musste bei dem Gedanken lächeln, dass Zuhause ein Mensch auf mich wartete, welchem ich etwas bedeutete. Sanemi hatte sich auf das Gras gelegt und die Augen geschlossen: „Werdet ihr jetzt sentimental? Sagt es früh genug, damit ich mich ins Zelt flüchten kann." Giyu und ich sahen uns vielsagend an: Sanemi war schon viel freundlicher seit unserem ersten Treffen geworden. Damals hatte man kaum mit ihm reden können, ohne einen bissigen Kommentar einzukassieren. Mir fiel ein, wie sehr sich Giyu mit uns verändert hatte. Er öffnete sich immer mehr, zeigte Emotion. Ich nahm meinen Fisch von dem Stock und biss herzhaft hinein. Was die anderen Überlebenden wohl gerade machten... Ich hoffte inständig, dass es Muichiro und Genya auf ihrer Reise durch ganz Japan gutging. Meine Gedanken glitten weiter zu Tengen, vielleicht verbrachte er diesen schönen Abend mit seinen Frauen? Und die Jugend... Keine Ahnung, was mit ihnen sein mochte. Sie alle lebten ihr Leben wahrscheinlich weiter. So wie wir es taten. Giyu stieß mich freundlich an: „Wieso ziehst du so eine nachdenkliche Miene?" „Nichts, ich habe mich nur gerade gefragt, wie es den anderen geht...", ich richtete meinen Blick auf den halb gegessenen Fisch. „Ich glaube, dass es ihnen allen gut geht", dieser Kommentar war von Sanemi gekommen. Ich grinste: „Ihr habt wahrscheinlich recht." Damit sagten wir eine ganze Weile lang nichts, aßen tonlos zu Ende. Giyu kroch als erstes ins Zelt, seine Augen waren schon seit einer ganzen langen Zeit zu schmalen Schlitzen geworden. Nach ihm ging auch wenig später Sanemi schlafen. Er sah mich fragend an: „Kommst du auch?" „Ich bleibe noch ein wenig hier", ich nahm meinen Blick nicht von den Sternen. Es waren so viele, glänzten wunderschön. Ich versuchte, die Sternbilder, welche Mitsuri mir gezeigt hatte aufzuspüren. Schließlich ließ ich es aber, kroch ins Zelt hinein. Das letzte, was ich hörte, war der ruhige Atem meiner zwei besten Freunde.

Ich schlug flatternd die Augen auf. Um mich herum war es dunkel und warm. Ich tastete mit der einen Hand nach Mitsuri. Sie musste doch irgendwo sein. Endlich ertastete ich etwas. Zu meinem Leidwesen war es nicht Mitsuris Taille, sondern Kaburamarus Körper. Seine Schuppen waren so glatt wie immer. Von der anderen Seite streckte mir jemand einen Fuß ins Gesicht. Und ich erinnerte mich endlich wieder: Ich war nicht Zuhause, das hier war nicht mein Bett und der Mensch, welcher mir den Fuß ins Gesicht streckte war sicher nicht Mitsuri. Ein Blick auf die andere Seite bestätigte es mir, als ich in Sanemis Gesicht blickte. Ich musste mir ein Lachen verkneifen, denn seine Haare standen in alle Richtungen ab und mit seinem geöffneten Mund sabberte er seinen Schlafsack voll. Giyu konnte ich nirgends wahrnehmen, weswegen ich schlussfolgerte, ich musste sich schon irgendwo draußen aufhalten. Auch ich richtete mich auf, verließ langsam das Zelt, hieß den frühen Morgen und die kühle Brise willkommen. Giyu saß an einen Baum gelehnt am Flussufer. In seiner Hand war ein Buch zu erkennen. Mein Freund blickte nicht einmal auf, als ich mich näherte: „Was liest du da?" „Tanjiro hat es mir geschenkt... Es stammt von einem seiner Freunde, welcher eine Karriere als Autor anpeilt", Giyu präsentierte es mir mit kritischem Blick , „Es ist gut geschrieben, allerdings glaube ich nicht, dass es mir vom Stil her gefällt. Es ist eher - wie soll ich sagen – ein typischer Pfad des Helden, wie man ihn kennt.... Eine Omache an die ersten Säulen, wenn man so will..." Ich musterte das Buch. Es war eindeutig ein Einzelstück, bescheiden in einfaches Leder gebunden. Ich setzte mich seufzend dazu, lehnte mich ebenfalls an den Baum: „Wieso bist du eigentlich schon so früh auf?" „Du doch auch", er runzelte die Stirn. Dann lächelte er sanft: „Sanemi hat mich geweckt. Plötzlich lag er zu Hälfte auf meinem Bauch und hat Sabber auf meiner Brust verteilt. Man könnte also sagen, ich bin geflüchtet." „Nicht nur du", wir beide lachten.

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