73 - Arete Villa, Vor dem erloschenen Feuer

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Als der Morgen graute, war die Wut so sehr angeschwollen, dass sie nicht mehr liegen bleiben konnte. Cress zog sich an und stieg die Treppe hinunter in die Halle. Sie sah ihn in seinem Sessel sitzen, sah ihn Zeitung lesen, als wäre nichts geschehen. Als wären sie noch dieselben Menschen wie vor gestern abend.

Julian sah auf zu ihr. Er sah müde aus, hatte wohl genauso wenig geschlafen wie sie. Cress versuchte zum hundertsten Mal, sein Gesicht zu lesen. Herauszufinden, ob die Welt eine falsche Vorstellung von ihm hatte, oder ob jede hinterhältige Geschichte stimmte. Keiner von beiden sagte „Guten Morgen". Es war kein guter Morgen. Denn jetzt war es zu spät für Gnade. Für sie beide. Sie machte einen Schritt zu viel auf ihn zu. Die Mordlust war ihr offensichtlich anzusehen. Es war nur ein einziger Schritt gewesen, doch er trat etwas los. Julian Alessandrini stand auf. Van Garde hatte mehrmals angedeutet, dass sein Cousin ihm im Nahkampf überlegen war. Das war eine beängstigende Aussage in Anbetracht des rechten Hakens des Generals. Cress hatte es nicht unbedingt für eine Übertreibung gehalten, aber Julian mit diesem Gesichtsausdruck vor sich stehen zu haben, war beängstigend. Er wusste genau, dass sie für eine Sekunde darüber nachgedacht hatte, ihm an die Kehle zu gehen, damit er nicht wieder anfing zu sprechen.

„Wenn es dir hilft, dann versuch einen Schlag zu landen", waren die ersten Worte des noch nicht einmal angebrochenen Tages. „Aber ich warne dich: du bist es gewohnt zu gewinnen. Das wirst du hier nicht."

Stille.

„Versuch es."

„Ich bin nicht so dumm, Euch zu schlagen", machte Cress abfällig. Mehr, um sich selbst davon abzuhalten, es tatsächlich zu tun.

„Du kannst aufhören, mich zu Siezen."

„Ihr tragt ein blütenweißes Hemd."

Wut war eine Erleichterung nach dem bodenlosen Loch, in das sie gestürzt waren. Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben.

„Wenn du mich zum Bluten bringst, würdest du mich sehr überraschen."

Er lächelte immer noch, als sie ausholte und ihm eine schallende Ohrfeige verpasste.

„Schlag gelandet", sagte Cress trocken.

„Hm", machte er und brachte seinen Kopf wieder in eine Linie mit ihrem. „Nicht fest genug."

Er war so schnell, dass sie ihn kaum kommen sah. Cress wich aus purem Instinkt aus, aber seine Fingerknöchel streiften trotzdem ihre Schulter. Sie stolperte gegen eine der Säulen, hob die Unterarme, um ihn zu blocken. Julian krachte in sie hinein, wie ein Schmiedehammer. Obwohl sie versuchte, sich zu befreien, verlor ihre Wirbelsäule in den nächsten Minuten nie den Kontakt zum Stein der Säule. Irgendwann machte er leichtfüßig zwei Schritte zurück und sie war wieder frei. Cress stand vornübergebeugt und atmete schwer.

„Oh", machte sie erschüttert.

„Selbst schuld", sagte er. „Du musstest Nico die Nase brechen."

„Aus welcher Hölle bist du gekrochen", fluchte Cress, während ihr klar wurde, dass sie ein Problem hatte. Und auch, dass es ratsam gewesen wäre, erst zu frühstücken und davor am besten noch zu schlafen.

„Finde es heraus", lud er sie ein und schlenderte wieder zurück auf seine Ausgangsposition.

Cress dehnte ihren Nacken. Egal ob ihm klar war, was er gerade getan hatte oder nicht, er würde es bald herausfinden. Sie stürzte sich auf ihn.

Er duckte sich unter ihrem Manöver durch, als hätte er es kommen sehen. Verdutzt fuhr Cress zu ihm herum, packte seinen Arm und wollte ihn umwerfen. Es funktionierte nicht. Sie hatte schon Männer, die dreimal so viel wogen wie sie selbst, damit zu Boden gebracht. Julian fiel nicht. Er drehte die Richtung der Bewegung um und schickte sie auf Steinfließen hinunter. Nicht mit viel Schwung, sie konnte sich problemlos abfangen. Es fühlte sich an, als hätte er nun ihr eine Respektohrfeige gegeben. Cress Blickfeld wurde enger. Sie war es gewohnt, dass man sie unterschätzte, aber nun ging ihr auf, dass sie ihn unterschätzt hatte. Er war noch stärker, als er aussah, und aus irgendeinem verheerenden Grund wusste er sehr gut, was sie konnte. Cress vergaß, gegen wen sie kämpfte. Sie war eine schlechte Verliererin. Die Ringe, die Gilden, alles hatte ihr eingebläut, dass nur diejenigen, die gewannen, überlebten. Julian lächelte voll Überheblichkeit, als sie wieder und wieder versuchte, ihn zu überwältigen. Das Liebesgeständnis an die Tote war vergangen, der Moment der Sanftheit, den sie nie gewollt hatte, vorbei. Das hier verstand sie, das hier war sicheres Territorium. Auch wenn sie versagte. Ihre Wut bekam einen verzweifelten Einschlag. 

„Böse", kommentierte er einen unkoordinierten Kick in Richtung seines Schritts, den sie aus purem Hass versuchte.

„Wer hat dir das beigebracht?", keuchte Cress, als sie sich von ihm entfernte. Sie umkreisten sich langsam in der Eingangshalle, während sein Tee auf dem Tisch vor dem Feuer kalt wurde. Er verzog den Mund und griff sich an den Arm, wo er sich in den Narben verletzt hatte. Das hier war nicht einmal seine Topform. Grundgütige Sterne.

„Du", sagte Julian.

Cress senkte die Fäuste und hätte gerne ihren eigenen Gesichtsausdruck gesehen.

„Du hast mir beigebracht, wie man Assassinen schlägt, weil dein Vater es dir beigebracht hat. Natürlich kanntest du die Taktiken, als du mit achtzehn wirklich gegen Geister angetreten bist. Du konntest nur gewinnen."

„Lügner."

Sie stürzte sich auf ihn. Er kannte jede Bewegung. Beinahe jede zumindest. Sie fand heraus, dass er nur die Attacken der Hearts auswendig konnte. Nicht das, was sie bei den Clubs, Spades, den Diamonds gelernt hatte. Nicht das, was einem die Gosse beibrachte. Doch er war so gut, so viel besser als sie. Besser als jeder Farblose, gegen den sie angetreten war. Einmal schaffte sie es, ihn gegen eine der Säulen zu werfen.

„Gut", machte er milde beeindruckt, bevor er sie herumriss und wieder die Oberhand hatte. Sie fühlte sich, als würde sie gegen eine stärkere Version ihrer selbst kämpfen. Er ließ sie ihren gesamten Frust an ihm abbauen, bis ihre Hüfte unter ihr nachgab und sie ins Stolpern kam.

Sie war noch lange nicht fertig mit ihm, aber er war am anderen Ende des Raums und sie war zu erschöpft, um ihm nachzusetzen. Draußen war die Sonne aufgegangen. Sie hatte es nicht einmal bemerkt. Cress richtete sich auf, verschwitzt und überanstrengt. Julian spannte seine Rückenmuskeln an und zuckte zusammen vor Schmerz. Das Klettern musste ihm auch noch in den Knochen stecken. Cress sah direkt durch seine Strategie, aber das verhinderte nicht, dass sie wirkte. Sie setzte sich an Ort und Stelle auf den Hintern und streckte stöhnend ihr linkes Bein aus. Julian hatte nicht darüber gelogen, dass sie adlig gewesen war. Und auch nicht darüber, dass sie sich gekannt hatten.

„Er lügt nicht", flüsterte sie dem Boden entgegen, während sie versuchte zu Atem zu kommen. „Der Bastard lügt nicht."

Das letzte Mal, als sie so geschlagen auf dem Boden gekauert war, hatte sie aus Ohren und Nase geblutet, weil die rote Mutter dem arroganten Mädchen aus den Kampfringen zeigen wollte, dass gute Hiebe nicht genug waren, um in die Gilde aufgenommen zu werden. Dass sie lernen würde und das unter Schmerzen. Auch jetzt hatte sie Schmerzen, aber es waren ihre Muskeln und Knochen, die der Beanspruchung nach den Narben noch nicht gewachsen waren. Das Training war nur ein Abklatsch davon gewesen, was diese Adligen wirklich konnten. Julian hatte nicht versucht, ihr wehzutun. Er hatte es vermieden, wie sie es von ihrem Training mit den Rekruten der Clubs kannte. Nichts tat so sehr weh, wie ihr verletztes Ego. Kein Wunder, dass er keine Angst vor ihr hatte, aber immerhin hatte er sein viel zu weißes Hemd vollgeschwitzt.

„Okay", sagte Cress nachdem sie ihn volle fünf Minuten angestarrt hatte. „Okay, verstanden."

Er lächelte nicht mehr. Sie blieben dort stehen, wo sie waren. Hilflosigkeit, nicht nur weil er sie offensichtlich mit Leichtigkeit besiegen könnte, sondern vor allem auch, weil er zumindest in Teilen die Wahrheit gesagt hatte. Das hatte er bewiesen. Er wusste, wie sie im Kampf dachte. Wie sie ihn angreifen würde, wenn sie wollte. Sie hatte keine Kontrolle darüber, wer sie war in seinen Augen, weil er sie kannte. Deswegen die Angst, die ihr die Kehle zudrückte. Denn es endete nicht mit diesem Kampf, es fing gerade erst an, was auch immer es war.

„Wie heiße ich?", fragte sie ihn, während sie wieder auf die Beine kam. Julian antwortete nicht. Jetzt, wo sie fragte, war es etwas anderes. Sie war sich nicht sicher, für wen von ihnen es die schmerzhaftere Frage war in diesem Moment.

„Der Name des Mädchens, das verschwunden ist", verlangte sie. „Wie heißt sie?"

„Victoria", antwortete er und es klang wie sein letzter Atemzug. „Victoria Ivess-Yorda."

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt