Cress lag auf dem Rücken und sah hinauf in den Himmel. Sie hatte die Arme ausgebreitet, so dass diese links und rechts auf dem Metall der Flügel lagen. Sie sahen beinahe aus, als würden sie aus dem Rücken der Diebin sprießen. Sie trug eine weiße Bluse und hatte Grasflecken am Rücken, als sie sich aufrichtete und zu ihm umdrehte. Sie sah nicht so schlimm aus, wie Julian erwartet hatte. Wenn überhaupt, dann erholter als zuvor, vielleicht erholter als er. Wahrscheinlich lag es an seiner Abwesenheit. Er wusste, dass Finja mit ihr gesprochen hatte und er hatte die psychologische Einschätzung des Arztes gelesen. Alles, um sich auf ihre nächste Begegnung vorzubereiten, um das Gefühl zu haben, etwas tun zu können.
„Du warst lange weg", sagte sie. Eine neutrale Beobachtung. Nichts ließ unmittelbar darauf schließen, wie sie auseinander gegangen waren. Auf die blauen Flecken, die Worte, die Verzweiflung. Er hatte ihr Zeit geben wollen, um es alles zumindest ein wenig zu verarbeiten, aber sie waren wie zwei Elementarteilchen, die noch nicht wussten, ob sie sich anzogen oder abstießen. Er hatte den Abstand genauso gebraucht.
„Ich war mir sicher, dass du mich nicht wiedersehen willst, wenn du die Wahl hättest."
„Nein, du hast Angst vor mir. Ich habe dich nicht weggeschickt."
Julian schloss die Augen. Er zwang sich, sich darauf zu konzentrieren, wie der Wind über das Wasser strich. Durch das Gras. Durch ihr Haar. Er öffnete die Augen wieder.
„Wieso hast du Finja gesagt, dass du mich sehen willst?"
„Ich wollte testen, ob du wirklich kommst, wenn ich dich rufen lasse."
Er nahm ihr geheucheltes Desinteresse zur Kenntnis. Sie kam ihm einsam vor. Traumata isolierten Menschen. Niemand sonst hatte Zugang zur gleichen Welt, oder zumindest fühlte es sich so an. Er verstand immerhin einen Teil davon. Er war auch gefallen. Gesprungen, aber das wusste sie nicht. Die Schlucht schien sich unter seinen Füßen aufzutun, sein Herz stolperte. Dann stand er wieder auf festem Boden und sie beobachtete ihn. Er setzte sich vorsichtig vor ihr ins Gras, zwischen die Flügel, in denen sich Regenwasser gesammelt hatte. Finja hatte gesagt, dass die Vögel daraus tranken. Was für eine Ironie.
„Was kann ich für dich tun?", fragte Julian.
„Sieh mir in die Augen und sag mir, dass es wahr ist."
Julian hielt ihrem Blick stand.
„Ich habe nicht gelogen", sagte er. „Darüber, wer du warst. Für uns, für mich."
Er sah keinen Grund mehr, zu verstecken, wie er sie ansah. Ihre Geschichte begann dort, wo seine mit ihr aufhörte. Sie waren beide nicht mehr ganz.
„Deswegen werde ich so gut behandelt."
Julian verlagerte sein Gewicht. Die Anklage in ihrer Stimme schnitt ihm in den Verstand.
„Ich habe mich immer bemüht, Geister human zu behandeln, aber ich war nicht oft in Kontakt mit den Narben", gab er zu.
Zu sehen, dass er sie nicht in einen Kerker geworfen hatte, als sie in die Villa spaziert war, hatte sie überrascht. Jetzt machte sie die Verstrickungen dafür verantwortlich und glaubte schlechter einschätzen zu können, wie er sonst auf ihresgleichen reagiert hätte. Wie grausam unter Umständen. Sie hatte nicht Unrecht. Schließlich hing in Katania immer noch sein blutiger Lorbeerkranz an die Pforte des Tempels genagelt.
„Du wusstest wer ich bin, wer ich war. Trotzdem hast du mich in die Narben geschickt. Du bist mitgekommen, weil ich deine Verlobte war, aber du hast mich benutzt wie der Geist, den du gebraucht hättest."
Sie zog ihn zur Verantwortung, anstatt Fragen zu ihrer Vergangenheit zu stellen. Fragen nach ihren Eltern und nach der Familie, deren Name sie vergessen hatte.
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Fiksi IlmiahIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...