Das Erbe

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Die Sonne stand tief, tauchte die Umgebung in ein warmes, goldenes Licht. Als ich aus dem Auto stieg, wehte der Wind mir durch die Haare. Unwillkürlich schlang ich meine Arme fest um meinen Oberkörper.

Aus dem Augenwinkel sah ich einen Mann auf mich zukommen. 

»Miss Garner?«, fragte er mit rauer Stimme, die einen leichten Zweifel verriet. Der Mann hatte kurzes graues Haar, welches die Falten in seinem Gesicht betonte. Seine Augen spiegelten die Skepsis in seiner Stimme wider. Schrien mir ihr Misstrauen entgegen. Ich nickte und hielt ihm meine Hand hin.

»Sie sind Mr Burnham?«

»Hatten Sie eine angenehme Reise?«, fragte er und erwiderte meinen Händedruck. »Es wird bald dunkel, bitte kommen sie herein.« Ich folgte seiner kleinen Gestalt, bis er mir bedeutete, vorzugehen.

»Ich kümmere mich um Ihr Gepäck. Bitte, die Tür ist offen.« Kein befestigter Weg. Keine Straße, lediglich Trampelpfade. Die Zivilisation war meilenweit entfernt. Der Wald, der das Grundstück umsäumte, wirkte wie eine riesige Mauer. Kein Straßenlärm, keine Stimmen. Nur das Rauschen der Blätter in den Baumkronen und das Zirpen der Grillen im hohen Gras durchbrach die Ruhe. Langsam näherte ich mich dem Haus, dessen Äußeres deutlich in die Jahre gekommen war. Das Holz war grau, splitterte. Die Fensterläden, sofern noch vorhanden, hingen windschief und die Dielen der Veranda ächzten unter meinem Gewicht. Mr Burnham stellte das Gepäck unter den Windfang vor der Eingangstür.

»Hier sollte es vorerst geschützt stehen«, sagte er, während er sich die Anstrengung von der Stirn wischte. »Kommen Sie erstmal rein.« Er hielt mir die Tür auf. »Das Haus ist momentan nicht bewohnbar. Es gibt zahlreiche Schäden am Dach und einige der Fenster sind kaputt.« Sein Lächeln verriet mir, dass er sich persönlich dafür schämte, wie es in dem Haus aussah. 

Meine Mutter hatte mir immer wieder versichert, dass ich es bereuen würde, das Erbe anzunehmen. Dass dieses Land meine Tante hatte verrückt werden lassen. Ich glaubte ihr nicht. Wie sollte ein Land jemanden verrückt machen? Die Haustür führte direkt in die Küche. Überall stand Geschirr, Essensreste lagen auf den Tellern. Laub bedeckte den Boden und es hingen meterlange Spinnweben von der Decke. Ich schüttelte mich.

»Wie lange ist das Haus schon in diesem Zustand?«, fragte ich mit einem nagenden Gefühl in der Magengegend. Sein Lächeln starb.

»Agatha war schon seit Monaten nicht mehr hier. Davor hat sie in dem Wohnwagen hinterm Haus gewohnt.«

»Kannten Sie meine Tante gut?«, erkundigte ich mich weiter. Der Mann neigte den Kopf hin und her. »Ich kannte sie. Man hat sich gelegentlich unterhalten. Ab und an, als sie nicht mehr so konnte, wie sie wollte, bin ich für sie einkaufen gegangen. Aber sonst standen wir uns nicht nahe.« 

Ich betrat das angrenzende Wohnzimmer. Der Wind pfiff kalt durch ein zerstörtes Panoramafenster, das zum Wald hin ausgerichtet war. Die Sonnenstrahlen brachen sich in den Scherben, die noch auf dem Boden lagen und stellten einen krassen Kontrast zur Schwärze der dahinterliegenden Dämmerung dar. 

»Was ist hier passiert?«, fragte ich und trat noch einen Schritt vorwärts. Eine Scherbe zerbrach unter meiner Sohle und knirschte. Hallte von den Wänden wider, hinterließ ein Echo im Wald. Mr Burnham zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß es nicht genau.«

»Warum hat sie den Schaden nicht reparieren lassen?«

»Auch das kann ich Ihnen nicht sagen, Miss Garner. Am Geld kann es nicht gelegen haben, Agatha war wohlhabend.« Ich konnte das Lächeln, welches sich auf meine Lippen stahl nicht unterdrücken.

»Entschuldigen Sie meine unverschämte Frage, aber, von welcher Summe reden wir hier genau?«

»Ach, ich bitte Sie. Dafür sind wir ja hier. Nun...« Er zog eine Schublade unterm Wohnzimmertisch heraus und legte eine Mappe neben mich aufs Sofa. Er begann darin zu blättern und zählte mir einige Dinge auf. Meine Handflächen waren schweißnass. Unauffällig versuchte ich, sie an meiner Hose trocken zu wischen. »Berücksichtigen wir nun alle genannten Punkte, berechnet sich das Vermögen Ihrer Tante, beziehungsweise Ihr Vermögen, auf etwa 143 Millionen Dollar.«

Ich starrte ihn an. Spürte, wie mein Mund sich öffnete und ich nach Luft rang. Unfähig auch nur ein Wort herauszubringen, stand ich auf. Meine Füße trugen mich durchs Wohnzimmer über raschelnde Blätter, um das Sofa herum. 143 Millionen hatte er gesagt. Ich schloss meine Augen, atmete tief durch. Warum hatte der Rest meiner Familie dieses Erbe ausgeschlagen?

»Miss Garner?« Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

»Wenn sie so viel Geld hatte, wieso hat sie das Haus so verkommen lassen?« Der Mann zuckte die Schultern.

»Das war nichts, worüber wir geredet haben. Ihre Tante war sehr krank, wissen Sie? Sie hat Dinge gesehen. Dinge, die nicht da waren. Schieben Sie es auf die Abgelegenheit dieses Ortes, die Nähe zum Wald. Die Einsamkeit hier draußen. Aber wenn Sie einen gut gemeinten Rat wollen, dann bringen Sie das Haus in Ordnung und verkaufen es an den Höchstbietenden.« Er sah mir eindringlich in die Augen.

»Sie war krank?« Meine Mutter hatte mehrfach erwähnt, dass sie verrückt sei. Aber woran sie das festmachte, hatte sie mir nie gesagt. Der Mann nickte.

»Nicht nur körperlich, will ich sagen.«

»Verstehe.« Mein Blick fiel zum Wohnzimmerfenster, auf den Waldrand. Es wurde immer dunkler. Der Wald war schwarz, die Äste der Bäume schienen in der Dunkelheit lebendig und nacheinander zu greifen. »Ich denke, den Rest des Hauses werde ich mir morgen ansehen und dann überlegen, was ich damit mach. Ist der Wohnwagen offen?« Mr Burnham klatschte in die Hände. 

»Na, dann will ich Sie nicht weiter aufhalten. Kommen Sie.« Er ging voraus, zog meine Koffer hinter sich her. Ich folgte ihm ums Haus herum. Der Wohnwagen war altmodisch eingerichtet, es roch nach Lavendel, aber nicht muffig. Meine Finger berührten den Stoff des Fahrersitzes, der Beifahrersitz war ausgebaut und durch eine transparente Plastikmatte ersetzt, auf der zwei Näpfe in Katzenform standen.

»Hatte Agatha eine Katze?«

»Ja, Puffington, er streunt den ganzen Tag durch die Wälder, ist aber pünktlich zum Abendessen wieder da.« Ich zog meine Augenbrauen hoch. Puffington. Mr Burnham gab mir einen gepolsterten Umschlag. »Hier sind die Schlüssel zum Haus und zum Wohnwagen. Ich sehe Sie morgen früh. Schlafen Sie gut, Miss Garner.«

»Selma«, ich hielt ihm erneut meine Hand hin. Er nickte, nannte mir jedoch nicht seinen Vornamen. »Bis dann, Mr Burnham.«

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