Und seine Augen werden nass - Paul

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Ich wusste meine Gefühle nicht mehr richtig einzuordnen.
Nun stand Richard vor mir, und seine Augen wurden nass.
Er war wütend, verzweifelt, fühlte sich schuldig.
Immer wieder blickte er nach oben, versuchte damit, die Tränen aufzuhalten, doch das gelang ihm nicht.
Ich war nicht mehr fähig, das gerade von ihm ausgesprochene zu verarbeiten.
Zu viel wurde in diesem Moment aufgewirbelt.
Meine Vergangenenheit.
Ich spürte den wachsenden Kloß in meinem Hals.
Gleich würde eine erneute Tränenflut auch über mich hineinbrechen.
Richard rührte sich nicht. Er wartete vergeblich auf eine Reaktion von mir.
Als er bemerkte, dass ich nichts zu erwidern hatte, drehte er sich mit schmerzerfülltem Blick um und ging langsamen Schrittes Richtung Tür.
In mir wuchs die Verzweiflung.
Als Richard die Hand um die Türklinke schloss, um binnen weniger Sekunden den Raum zu verlassen, kam aus mir ein gequältes „Geh nicht".
Richard drehte sich erwartungsvoll um und sah mir eindringlich in die Augen.
Ich zögerte.
Stille.
Richard schloss enttäuscht die Augen und senkte seinen Kopf.
Dann trat er aus.

Eine Welle unaufhaltsamer Gefühle brach über mich herein und ließ mich mit dem Gesicht vorweg in mein Kissen sinken.
Was hätte ich nun auch sagen sollen?
Wie sollte es weiter gehen?
Wenn wir ehrlich zueinander waren, hatten wir die Grenze deutlich überschritten.
Das wurde mir schmerzlich bewusst, als Richard mit seinen Lippen an meinem Körper herunter wanderte und mit seinem warmen Atem einen Schauer auf meiner Haut hinterließ.
Die Unsicherheit wuchs mit jedem Millimeter, den er abwärts wanderte.
Und somit auch der Schmerz.
Womit hatte ich das jetzt verdient, wenn ich es offensichtlich die letzten drei Jahre schon nicht verdient hatte?
Ich war ein Meister im verdrängen und mit den unerwiderten Gefühlen kam ich mittlerweile klar. Womit ich nicht auskam, war das Liebesgeständnis, die Berührungen, die Küsse.
Auch wenn ich sie mir so sehr herbei sehnte.
Zu groß war die Angst, von ihm verletzt zu werden.
Ich rollte mich auf die Seite und richtete mich auf.
Mein Kopf schmerzte. Zu sehr hatte er in den letzten Stunden gegrübelt.
Ich ließ meinen Blick durch mein Zimmer mit dem Bordeauxroten Teppich schweifen.
Auf dem Boden erblickte ich Richards T-Shirt und mein Leinenhemd, aufeinander liegend auf dem Boden.
Ein Beweis dafür, dass ich es mir nicht eingebildet hatte.
Ich stand langsam auf und ließ mich vor dem Haufen auf die Knie fallen.
Einige Sekunden lang betrachtete ich das Kunstwerk unserer Leidenschaft.
Dann nahm ich beide Kleidungsstücke auf und vergrub mein Gesicht darin.
Richards maskuliner Geruch vermischte sich mit meinem eigenen.
Sollte es so sein?
Die Schmetterlinge in meinem Bauch begannen, wild herumzuflattern.
Meine Augen wurden wieder glasig und ich musste schlucken.
Ich richtete mich auf und ging zögernd zu meiner Zimmertür.
War das nun eine gute Idee?
Ich öffnete die Tür und trat aus. Ich spürte die kratzigen Fasern des Teppichs im Flur unter meinen nackten Fußsohlen - Schritt für Schritt.
Nun stand ich vor Richards Zimmertür.
Einen kurzen Moment hielt ich inne.
Dann klopfte ich zweimal höflich, bevor ich eintrat.

Richard saß mit freiem Oberkörper auf der Bettkante wie ein begossener Pudel.
Der sonst so bedrohlich wirkende Richard blickte nicht einmal auf, sondern ließ seine Schultern hängen und schaute zu Boden.
Ich räusperte mich kurz und sagte: „Du hast dein Oberteil vergessen."
Er streckte die Hand aus, ohne aufzuschauen.
Ich dachte nicht daran, ihm das Shirt zu überreichen.
Ich holte tief Luft bevor ich zu ihm sprach: „Richard, ich kann das nicht."
Er schaute mir ins Gesicht.
Er verstand garnichts mehr. Und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln.
„Tu mir das nicht an." sagte Richard, als er flehend den Kopf schüttelte.
Ehe ich etwas antworten konnte, riss jemand die Tür auf.
Till.
Typisch.
„Oh, darf ich mitmachen?" er wackelte mit seinen Augenbrauen und bewegte seine Hüfte vor und zurück in unsere Richtung.
Da fiel mir ein, das Richard und ich obenrum nicht mehr bekleidet waren.
Du muss echt mal lernen, anzuklopfen." raunte Richard Till an.
„Wieso? Damenbesuch hast du ja offensichtlich nicht!" er lachte scherzhaft.
Wenn du wüsstest.
„Ist was?" fragte Richard genervt.
„Beruhig dich. Ich wollte nur fragen, ob ihr auch noch mit runter kommt. Aber bitte angezogen. Ist kein GangBang-Abend. Also... dieses Mal nicht." Till versuchte die Stimmung aufzulockern. Und nahm wieder Bezug zu unseren unbekleideten Oberkörpern.
Richard verdrehte die Augen.

Wir gingen gemeinsam nach unten.
Wir konnten nicht ablehnen, denn sonst würde die andere Hälfte der Band Verdacht schöpfen.
Allerdings gab es noch so viel unausgesprochenes.
Wir hatten uns beide unsere Oberteile übergezogen und schlurften mit Till gemeinsam die Treppe hinunter.
Richard hielt es nicht einmal für nötig, sich noch eine Hose überzuziehen und beließ es bei seiner Boxershort.
Das war nicht unüblich innerhalb der Band.
Wir kannten uns in- und auswendig. Bekleidet und unbekleidet.
In Anfangszeiten der Band waren wir sogar sexuell aktiv, während die anderen im selben Zimmer waren.
Wir konnten uns schlichtweg keine getrennten Zimmer leisten.
Eine Schamgrenze existierte in unserem Kreise schon längst nicht mehr.
Nun war ich mir aber gerade nicht mehr sicher, ob Richard dies nicht aus reiner Provokation veranstaltete.
Er wusste genau, wie ich seinen Körper vergötterte. Ich habe es ihm immerhin selbst gestanden.
Schneider musterte uns eindringlich und in diesem Moment war ich heilfroh, keine Gedanken lesen zu können.
Das Kopfkino war ihm gewiss.
„Heiße Stunden gehabt?" scherzte Olli.
„Nö, ich durfte nicht ran." antwortete Richard trocken und ehrlich vor versammelter Mannschaft.
Ich konnte nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte.
Die blanke Wut stieg in mir auf.

#Paulchard - Mein Herz brennt! Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt