Kapitel 22: Erkenntniss

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Zwölf Tage waren vergangen, zwölf zähe, endlose Tage, in denen ich wie ein Schatten meiner selbst durch die Therapie schleppte. Zwölf Tage, in denen ich jeden Morgen um genau 07:56 Uhr aufwachte, als wäre mein Körper für immer an diese Uhrzeit gebunden - die Uhrzeit, in der Janic gestorben war. Jeden Morgen, dieselbe kalte Stille, die mich umhüllte und durch mich hindurchging wie ein eisiger Schauer. Ich konnte nichts dagegen tun. Es fühlte sich an, als ob sich jeder Tag nur um diesen einen Moment drehte, und danach... war alles wie in einem trüben, endlosen Fluss aus Leere.

Amy... ohne sie hätte ich diese zwölf Tage nicht einmal durchgestanden, das wusste ich. Es war ihre Hand gewesen, die mich wieder und wieder in Richtung der Therapieräume geschoben hatte, ihre Stimme, die mich daran erinnerte, dass es einen Grund gab, warum ich überhaupt hier war. Sie besuchte mich regelmäßig, tauchte alle zwei Tage wie ein Fixpunkt in meinem kaputten Universum auf und rief trotzdem mindestens zweimal täglich an, um nach mir zu sehen. Jedes Mal, wenn ich das Telefon aufhob und ihre Stimme hörte, klang es so vertraut und gleichzeitig so fremd - als wäre sie die letzte Verbindung zu einer Welt, die ich längst verloren hatte.

Doch trotz all ihrer Bemühungen - trotz der erzwungenen Therapien, trotz ihrer Fürsorge - fühlte ich mich leerer als je zuvor. Die Therapeuten versuchten, zu mir durchzudringen, redeten und redeten, und ich saß dort, starrte sie an, und kein einziges Wort blieb haften. Es war, als ob mein Verstand eine Barriere aufgebaut hatte, eine Wand, die alles abwehrte, was die Therapeuten sagten. Ihre Stimmen schienen durch mich hindurchzudringen, dumpf und ohne Bedeutung, wie das Rauschen einer fernen Brandung.

In den Gruppenstunden saß ich stumm zwischen anderen Menschen, die alle durch ihre eigenen Verluste gebrochen worden waren - Eltern, die ihre Kinder verloren hatten, Partner, die sich voneinander verabschieden mussten, Geschwister, die getrennt wurden. Alle sprachen von ihrem Schmerz, von den Menschen, die sie verloren hatten. Und doch, während sie ihre Geschichten teilten und ihre Trauer offenbarte, blieb ich stumm. Kein Wort kam über meine Lippen, kein Funken Empathie regte sich in mir. Es war, als ob mein Herz verhärtet wäre, als ob selbst die Trauer der anderen in meinem eigenen Leid verloren ging.

Tag für Tag verließ ich die Therapiestunden in einem Zustand, der mir selbst fremd war. Ohne einen klaren Gedanken taumelte ich dann in denselben Pub, griff nach dem Glas, und der Alkohol füllte das endlose Nichts in mir - zumindest für eine kurze Zeit. Ich trank, bis das leere Gefühl ein wenig weniger schmerzhaft wurde, bis die Stimmen in meinem Kopf verstummten und die Schatten um mich herum verschwammen. Wenn ich dann irgendwann zurück in mein Apartment torkelte, wartete dort nur eine einzige Seele auf mich: Merle, meine Katze. Sie war wirklich noch da, die eine Beständigkeit, die mir blieb. Ihr leises Miauen und die Art, wie sie mich mit ihren großen, fragenden Augen ansah, hatten etwas so Unschuldiges, dass es fast wehtat. Doch ich hatte nicht mehr die Kraft, mich um sie zu kümmern. Ich hatte keine Energie, weder für mich noch für sie. Deshalb bat ich Amy, sie mitzunehmen.

Amy schien nicht begeistert, doch ich wusste, dass sie Merle die Umgebung geben konnte, die sie verdiente. Ein großes Penthouse, liebevolle Hände - all das, was ich ihr nicht mehr geben konnte. Es tat weh, diesen letzten Rest von Normalität loszulassen, aber es fühlte sich auch irgendwie richtig an, als ob ich ihr damit das Leben geben konnte, das ich selbst längst verloren hatte.

Mit jedem neuen Tag zog sich das dumpfe Gefühl von Selbstmitleid und Lähmung enger um mich zusammen. Ich war gefangen, gefangen in einer Schleife aus Erinnerungen und Alkohol, ein Kreislauf, der nie endete und mich doch immer an denselben Punkt zurückführte. Die Wände meines Apartments schienen sich um mich herum zu schließen, und das Sofa wurde zum festen Platz meines Leids. Ich verbrachte Stunden damit, auf die Wand zu starren, während die Zeit in einer gespenstischen Stille vorbeizog. Nichts veränderte sich, nichts bewegte sich.

Jeden Morgen, wenn der Wecker oder mein inneres Uhrwerk mich genau um 07:56 Uhr wachrüttelte, erinnerte mich die Uhrzeit daran, dass Janic fort war. Ich lag dann da und starrte an die Decke, spürte, wie das Gewicht seiner Abwesenheit auf mir lastete, und fragte mich, wie ich es all die Jahre so gut verdrängt hatte. Wie hatte ich es geschafft, die Realität zu ignorieren, mir ein Leben aufzubauen, in dem Janic lebendig blieb, Emma eine Freundin war, nur weil ich zu schwach war, die Wahrheit zu akzeptieren? Es war, als ob die Erkenntnis selbst eine offene Wunde in mir war, die ich immer wieder versuchte, mit Alkohol und Betäubung zu überdecken.

Amy wusste, dass ich wieder trank, sie sah es mir an. Aber sie sagte nichts. Es lag an mir, diesen Schritt zu gehen, mir Hilfe zu suchen. Doch die bloße Vorstellung, mich wieder in eine Entzugsklinik zu begeben, ließ mich innerlich verkrampfen. Ich war nicht bereit, mich dieser Dunkelheit zu stellen, nicht bereit, mich selbst zu retten, wenn ich ehrlich war. Also ließ ich es sein.

Und so verstrichen die Tage. Ich lebte in einer Art Zwischenzustand, nicht tot und doch auch nicht wirklich lebendig. Eine Hülle, die funktionierte, die atmete und sich bewegte, doch ohne einen Funken Lebenskraft. Ich hörte auf, die Tage zu zählen, hörte auf, darauf zu achten, ob es Tag oder Nacht war. Die Zeit floss an mir vorbei, verschwand irgendwo hinter einem grauen Schleier.

Doch eines Morgens wachte ich auf, und es war anders. Etwas in mir regte sich, ein flüchtiges Gefühl, das mich aus meinem dumpfen Zustand riss. Ich wusste nicht, was es war, aber es war da, ein Funke, ein kleiner, kaum wahrnehmbarer Impuls, der mir sagte, dass heute etwas Besonderes sein könnte. Ich konnte es nicht genau benennen, aber es lag wie ein Hauch in der Luft, ein Schatten, der mich daran erinnerte, dass es vielleicht noch einen Weg gab, einen, den ich bisher nicht gesehen hatte.

Langsam erhob ich mich von meinem Sofa, meine Bewegungen waren schwerfällig und ungewohnt. Der Alkohol hing noch wie eine Last in meinem Kopf, doch etwas anderes war stärker - etwas, das mich anzog, das mich zwang, aufzustehen und diesen Tag nicht wie alle anderen einfach verstreichen zu lassen.

Mein Name ist Sam...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt