Dämmerung

Chaos

,,Introduce a little anarchy, upset the established order, and everything becomes chaos. I'm an agent of chaos, and you know the thing about chaos?
It's fair.''
[The Joker – The Dark Knight]




In der letzten möglichen Sekunde, riss der Joker Alices rechten Arm so ruckartig in die Höhe, dass dabei die Machete polternd zu Boden fiel.
Seiner heißer Atem schlug ihr entgegen, als er sich an sie presste und ganz nah an ihrem Ohr zischte: ,,So spielen wir nicht, Alice. Nein, so spielen wir ganz und gar nicht!''
Dann zog er seine Waffe und zielte damit auf Selinas Kopf, den er nur knapp verfehlte, da sie es noch schaffte sich zur Seite wegzuducken. Der Mann des Jokers, mit dem die junge Diebin die Auseinandersetzung gehabt hatte, hatte nicht ganz so viel Glück. Die Kugel riss ihm das halbe Ohrläppchen weg.
Allein Alice war es zu verdanken —da sie dazwischen ging—, dass auch das zweite Geschoss sein Ziel verfehlte. Knurrend packte der Joker Alice bei der Kehle und presste sie dann gegen die nächstgelegene Wand.
Sein Griff war nicht zu fest, aber auch nicht gerade angenehm.
,,Weißt du, ich mag dich, Schätzchen'', sagte er zu ihr und blickte ewig lächelnd auf sie hinunter. ,,Glaub mir, ich tu's wirklich. Wenn es anders wäre, wärst du nämlich schon längst tot. Zerstückelt oder vielleicht aufgeschlitzt in einem Graben liegend. Aber irgendwann kommt der Punkt, da muss man einsehen, dass man verloren hat, Alice. An dem man sich eingestehen muss, dass man sich in eine Sackgasse verrannt hat.''
,,Vielleicht'', entgegnete Alice wispernd, denn seine Umklammerung ließ kaum etwas anderes zu. ,,Sind wir beide nicht allzu gut darin uns unsere Fehler einzugestehen.''
Die rot zerschlitzten Mundwinkel des Jokers zogen sich daraufhin in die Länge.
Ja, es gab vieles, das Alice war.
Vieles, das sie nicht war.
Aber eines schien sie wirklich immer zu sein: schlagfertig.
Und das manchmal sogar auf eine sehr Nerv tötende, anmaßende Weise, aber der Joker konnte ihrer Aufmüpfigkeit auch jetzt etwas abgewinnen.
,,Ich muss zugeben'', gestand er ihr, ,,dass ich dich unterschätzt habe, Liebchen.Du hast wirklich mehr Mumm in den Knochen, als ich dir zugetraut habe.''
Und wie sie das hatte.
Er war sich sicher, dass wenn er nicht dazwischen gegangen wäre, sie es mit Sicherheit durchgezogen hätte. Dass sie sich wirklich ihre eigene Hand abgeschlagen hätte. Denn das war eben auch einer jener Züge, der unweigerlich zu Alices Charakter gehörte: Furchtlosigkeit.
Törichte, immerwährende Furchtlosigkeit.
,,Wäre nicht das erste Mal, nicht wahr?'', feuerte die junge Frau zurück.
Und das obwohl sich irgendwo in ihrem Inneren eine leise mahnende Stimme zu Wort meldete und ihr riet, dass sie es mit dem Joker vielleicht doch nicht zu weit treiben sollte.
Aber wer setzte jetzt noch die Grenzen fest?
Sie war bereits an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, an dem sie, unter normalen Umständen, niemals gekommen wäre.
Hätte ihr irgendjemand zur Beginn ihrer Arbeit in Arkham gesagt, dass es irgendwann einmal dazu kommen würde, dass sie sich ihre eigene Hand abhacken würde, um jemand anderen vor dem Zorn des Jokers zu schützen, hätte sie wohl laut losgelacht und denjenigen als äußerst komischen Witzbold tituliert. Aber heute war tatsächlich der Tag gekommen, an dem sie eine ihrer eigenen Grenzen für den Joker ausgedehnt und verformt hatte.
Was machte es da jetzt noch für einen Unterschied, ob sie den Clown irgendwie verstimmte?

Aber der Joker war nicht verstimmt.
Nun, ein wenig schon, weil die diebische Elster die Zeit genutzt hatte und mittlerweile, wahrscheinlich über den Balkon, verschwunden war und er nicht die Chance bekommen hatte sie zu bestrafen —aber das machte nichts, er würde sie wiederfinden und noch entsprechend büßen lassen— genauso wie sich seine Männer aus dem Staub gemacht hatten. Als hätten sie alle gewusst, dass es jetzt nur noch um Alice und den Joker ging.
,,Du hast recht, Alice'', stimmte der Agent des Chaos mit ihr überein. ,,Es wäre wirklich nicht das erste Mal.''
Alice öffnete ihre Lippen, weil sie ihm noch mehr Kontra bieten wollte. Weil sie ihm noch so vieles an den Kopf werfen wollte - zum Beispiel, wie er es wagen konnte, ihr jetzt einfach so zuzustimmen! Aber seine Lippen, die sich, mit einem Mal, mit erschreckender Stärke gegen ihre pressten, erstickten jeden weiteren Protest.

Dieser Kuss überraschte sie.
Genauso wie der damalige in der Straßengasse, nachdem der Joker geflüchtet war.
Aber was sie noch mehr überraschte, war ihre eigene Reaktion darauf: sie ließ den Joker nicht nur gewähren. Sie ließ es nicht nur zu, dass er ihr einen Kuss raubte, der ihre Seele entflammte, sie erwiderten ihn auch noch mit Mark erschütterndem Enthusiasmus.
Vielleicht tat sie es, weil sie endlich irgendetwas anderes fühlen wollte.
Vielleicht, weil es die ganze Zeit über einen kleinen Teil in ihr gegeben hatte, der nur darauf gewartet hatte, endlich wieder von ihm geküsst zu werden.
Sie wusste es nicht genau.
Sie konnte es nicht sagen.
Und sie wollte die Logik hinter alledem, falls es überhaupt eine gab, auch nicht hinterfragen.
Jetzt wollte sie einfach nurfühlen.
Und es fühlte sich verdammt gut an.
Alice wusste nicht, ob der Joker, in seinem Leben, schon viele Frauen geküsst hatte.
Oder ob ein solcher Bereich überhaupt in sein chaotisches Leben gehörte.
Sie wusste nur, dass die Art und Weise wie seine Zunge über ihre glitt, wie sich seine Zähne in ihrer Haut festbissen, dass das was sie hier tat, in einen äußerst gefährlichen Abgrund führen könnte.
Dass das hier zu etwas werden konnte, das einen Anfang aber kein Ende kannte.
Aber es interessierte sie in diesem Augenblick nicht im Geringsten.
Das einzige was zählte, waren seine Hände auf ihrer Haut und seine Lippen an ihrer Kehle.
Das hier ist glatter Wahnsinn, Schätzchen, das ist dir doch klar, nicht wahr?
Ja, das ist es,dachte Alice und es war genau das, was sie jetzt wollte.
Ein Stückchen Wahnsinn, ein Hauch von Chaos, den ihr nur ein Mann wie der Joker geben konnte.
Niemand anderes wäre dazu in der Lage.
Weil es niemand anderen wie ihn gab.

,,Jack'', wisperte Alice, während der Joker beinahe ihre Kehle blutig biss.
Erst jetzt, da seine Hand über ihren Oberschenkel glitt, bemerkte sie, dass er sich seiner Handschuhe entledigt hatte. Die ersteechte Berührung, schoss wie ein züngelnder Stromschlag an ihren Synapsen entlang.
Sein Atem war glühend heiß und fächerte stetig über ihre eigene erhitzte Haut.
Alice stieß einen überraschten Laut aus, als der Joker ihr Becken packte und sie nach oben hievte. Ohne eine Aufforderung dazu zu erhalten und ganz ohne sein Zutun, schlang sie ihre Schenkel ein wenig fester um seine Hüften.
Was tust du hier, Alice? Sag, was tust du hier nur?
Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.
,,Was weißt du nicht, kleine Alice?'', wollte der Clown von ihr wissen, da sie unbewusst leise mit sich selbst gesprochen hatte.
Stellenweise war seine Schminke völlig verlaufen oder hatte auf ihre Haut abgefärbt; was ihm, was der Clown nun bemerkte, ziemlich gut gefiel. Auch der leicht verwischte Blutfleck auf ihrer linken Wange, dort wo seine blutigen Finger sie berührt hatten, schien genau an diese Stelle zu gehören.
Wie Blut auf weißem, unbedarftem Schnee...
Der Joker hatte sie gezeichnet.
Er hatte sie befleckt.
Er hatte ein Stück ihres Lebens zerbrochen und dennoch war sie noch ganz.
Er hatte sie eingefangen; wie einen Schmetterling in einen Glaskasten gesperrt und dennoch hatte sie sich losgerissen und flog wild in seiner Welt umher.
Maroni hatte recht gehabt—ja, dem Joker war der Blick des Mafiabosses nicht entgangen, er hatte geahnt, welche Gedanken ihn beschäftigt hatten— Alice gehörte nicht in seine Welt.
Ihre Hände waren nicht für Mord und Totschlag geschaffen.
Sie hatte nicht eine böse Faser in sich. Nicht einmal die Neigung dazu auch nur einer Menschenseele etwas anzutun.
Und dennoch konnte der Joker es nicht lassen, sie in seiner Welt gefangen zu halten.
Dennoch konnte er nicht der Versuchung widerstehen, sie gänzlich für sich einzunehmen.