Recht wortlos - Paul

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Wir saßen gemeinsam am Frühstückstisch.
Ich wollte im Erdboden versinken. Die Hälfte der Band wusste, das etwas zwischen mir und Richard gelaufen war.
Während Till und Flake ahnungslos herumalberten und den Tag planten, ließen Oliver und Schneider uns nicht aus den Augen. Besonders Olli hielt permanent den Augenkontakt zu mir.
War er sauer, dass er Abends nicht wieder in sein Zimmer zurückkehren konnte?
Ich schätzte mal, dass er nach dieser Nacht sowieso nicht mehr in diesem Bett nächtigen wollte.

Nach meinem Höhepunkt spürte ich augenblicklich wieder grenzenlose Scham.
Ich hatte meine komplette Hose inklusive Richards Hand eingesaut.
Aber das schien ihn nicht im geringsten zu stören.
Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen.
Er wusste genau, was sich gut anfühlte, und was man besser unterlassen sollte. Seine Technik hatte zur Folge, dass ich nach nicht einmal 30 Sekunden zum Orgasmus kam.
Zugegeben, er brachte mich schon eine ganze Zeit vorher um den Verstand.
Es stand also völlig außer Frage, dass dies die beste intime Begegnung war, die ich je hatte.
Danach küssten wir uns lange und intensiv, ehe sich Richard seine Hände wusch.
Ich wollte mich erst revanchieren, war allerdings über alle Maße hinaus extrem unsicher.
Nachdem ich meine Befriedigung erlangte, konnte ich wieder normal denken.
So schön es auch war, war es zugleich wahnsinnig unangenehm, dass Richard mir so nahe gekommen war. Dass er mich in einer so verletzlichen Situation begleitet hat. Kurz gesagt: es fühlte sich einfach nicht richtig an.
Nach 25 Jahren passierte sowas das erste mal.
Schlussendlich ging Richard leer aus.
Ich hatte nicht den Mut, ihm das zu geben, was er mir gab.
Entgegen meiner Erwartungen schien es ihm nichts auszumachen.
Ich fürchtete, erst wieder alles in meinem Kopf bis ins kleinste Detail zerdenken zu müssen.
Und genauso war es.

Olli schnippste vor meinem Gesicht herum, um mich aus meiner Trance zu erwecken.
„Hallooooo!"
Ich schüttelte mich kurz und richtete meine Aufmerksamkeit auf Olli.
„Ja?" mir schoß die Röte ins Gesicht.
„Ich fragte, wo ich heute Nacht schlafen darf!" entgegnete Oliver genervt.
Nun wurden sowohl Flake als auch Till hellhörig.
Flake schaute von seinem Berg voll Rührei mit Speck auf und Till hörte augenblicklich auf, sein Salamibrötchen zu kauen.
Vermutlich hatte ich mittlerweile die Pigmentierung einer Tomate angenommen.
Merkwürdig, denn wir konnten in unserem Kreise immer über unsere intimsten Erfahrungen berichten. Doch dies war mir überaus peinlich.
Schneider kratzte sich verlegen am Hinterkopf und lächelte, während er seinen leeren Teller betrachtete.
„Ich fürchte, du darfst wieder mit mir vorlieb nehmen." sagte Schneider in Richtung des Bassisten, um die peinliche stille zu durchbrechen.
Richard blickte mich an und warf mir eine fragende Geste zu.
Mein Herz begann augenblicklich schneller zu schlagen.
Meine Mundwinkel zuckten. Damit deutete ich ein Lächeln an, und bejahte somit seine Frage, ob wir uns wieder ein Zimmer teilten.
Till verstand nichts mehr und gab nur ein „Hä?" von sich, während er abwechselnd mich und Richard anblickte.

„Die beiden hatten heute Nacht ihr langersehntes Rendezvous." sagte Olli gelangweilt und stocherte in seinem Fleischsalat.
Till hob überrascht die Augenbrauen und musterte Richard.
Dieser wollte etwas sagen, zögerte jedoch und endschied sich dazu, es zu belassen.
In mir wuchs Verzweiflung. Ich wollte nicht näher auf das Thema eingehen, jedoch bedarf es einer Richtigstellung.
Das Kopfkino, welches die anderen nun zwangsläufig quälen würde, hatte real so nie stattgefunden.
„Also seit ihr jetzt... so.... so richtig... zusammen?" Flake hatte Schwierigkeiten die richtigen Worte zu finden.
„Nein." sagte ich schnell und zog damit alle Blicke auf mich.
Inklusive die von Richard.
Hoffentlich hatte ich ihn damit jetzt nicht verletzt, denn die Frage stand noch immer offen im Raum. Was ist das zwischen uns?
Ja, das fragten sich wohl alle stumm in der Runde.

Schneider verstand meines und Richards Unbehagen und fing mit der Tagesplanung an.
Es sollte die anderen ablenken.
Morgen Abend würden wir wieder vor tausenden von Fans spielen.
Heute war unser letzter freier Tag, den wir als Gruppe genießen konnten.
Wir einigten uns auf eine Schärenkreuzfahrt und den Besuch des Botanischen Gartens Göteborgs.
Abends kehrten wir in ein Fischrestaurant ein und kamen erschöpft und müde von unserer Erkundungstour in unser vorübergehendes Heim.

Wir saßen gemeinsam vor dem modernen Kamin, der dürftige Wärme spendete und schütteten einander unsere Herzen aus.
Das machten wir regelmäßig, ganz von selbst.
Oliver plagten Eheprobleme, die natürlich durch die Tour nicht besser wurden.
Schneider hatte mit seinem jüngsten Sohn allerhand zutun und litt darunter, seine Frau mit seinen Sprößlingen alleine zu lassen.
Flake hatte nicht viel zu bereden und Till hatte eine kreative Flaute. Dieser Mann bestand aus Gedichten. Zu jeder Situation, dass war gewiss, fiel ihm immer der passende Reim ein, jedoch fiel ihm gerade das, ohne erkennbare Gründe, momentan besonders schwer.
Richard vermisste seine Tochter wahnsinnig und war gefrustet, dass er für sein Solo-Projekt nur absagen von bekannten Künstlern bezüglich einer Zusammenarbeit bekam.
Ich hatte nichts zu sagen. Denn meine einzige Belastung war Richard.
Sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne.
Dies konnte ich wohl kaum in der Gruppe thematisieren, zumal mir mein Problem direkt gegenüber saß.
„Steht ihr schon immer auch auf Männer?" sprach Flake gerade aus.
Ich hatte gehofft, dass das Thema nicht nochmal auf den Tisch kommt.
„Nein." sagte Richard zögerlich.
Ich schüttelte den Kopf.
Daraufhin erzählte Flake uns von einer Situation damals in der Schule, in der er sich in seinen sehr gutaussehenden chilenischen besten Freund verliebte, und schwärmte, als wäre es gestern gewesen.
Schneider berichtete uns, dass er im Club vor 20 Jahren wild mit einem offensichtlich schwulen Bartender geknutscht hatte.
Till erinnerte sich sogar daran, damals mit seinem inzwischen verstorbenen Kumpel Zungenküsse geübt zu haben. Daraufhin stellte er seine Sexualität in Frage und ließ sich auf einen Handjob mit einem 5 Jahren älteren Mann ein.
Dabei merkte er, dass er definitiv Heterosexuell war.
Auch Olli erzählte zunächst zögerlich, sich damals in der DDR in einen Kollegen verguckt zu haben.
Jede einzelne Erzählung ließ mich besser fühlen.
Ich fühlte mich nicht mehr alleine, unsauber, ertappt und in meiner Intimität gestört.
Es schien etwas völlig normales zu sein, das gleiche Geschlecht einmal auszuprobieren,
Es folgte eine lange Redepause, ehe Schneider wieder das Wort ergriff.
„Egal, wie das mit euch weitergeht: Ich stehe zu euch!"
Ich lächelte. Es fühlte sich in der Tat schön an, jemanden zu haben, der einen bedingungslos unterstütze. Und Schneider war dieser jemand.
Er war mir gerade die letzten Wochen sehr ans Herz gewachsen.
Ohne ihn wären Richard und ich uns vermutlich nie näher gekommen.
Oliver fing an zu gähnen und fragte Schneider, ob er noch weiter verweilen wollte.
Schneider verneinte und folgte Olli aufs Zimmer. Auch Till und Flake beschlossen, langsam ins Bett zu gehen.
So blieben nur noch Richard und ich sitzen. In peinlicher Stille, recht wortlos.
Wir hatten untereinander ausgemacht, dass wir das Zimmer von Richard und Oliver behielten, während Schneider und Olli das Zimmer von Schneider und mir bewohnten.
Richard rutschte ungeduldig auf seinem Platz hin und her.
Ich musterte ihn.
Dieser Mann war einfach der schönste Mann, den ich je gesehen hatte.
Einzelne Strähnen seiner ursprünglich hochgegelten Haare hingen ihm in der Stirn. Er war völlig fertig vom Tag und ihm stand die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben.
„Sollen wir auch...?" fragte ich ihn mit leichter Unsicherheit.
Er nickte.
Wir standen beide ächzend auf.
Ich ging voraus, ehe mich Richard am Ellenbogen packte und mich zurückhielt.
Ich drehte mich um und sah, dass er mir tief in die Augen blickte.
Dann fragte er: „Können wir bitte einfach aufhören, so komisch zueinander zu sein?"




In eigener Sache:

Danke für die Geduld.
Die Zeit habe ich wirklich gebraucht, denn der Tod meines Opas hat mich doch härter getroffen als ich dachte und zu allem Überfluss ist dann auch noch meine Großtante gestorben.
Bezüglich der Story wird es nun mit Option 2 weitergehen. Auch aus der englischen Übersetzung hatten sich ein paar Leute gewünscht, dass es nicht sofort endet.
So soll es sein.
Bitte wundert euch nicht, wenn tagelang kein Kapitel kommt, ich habe momentan super viel um die Ohren.
Aber keine Sorge, die Lust am Schreiben ist mir längst nicht vergangen. ☺️

#Paulchard - Mein Herz brennt! Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt