Eine Tür zu viel

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Wir rannten und blieben doch auf der Stelle.
"In Träumen kann man nicht rennen" rief Cassy panisch.
"Wer hat sich denn den Mist ausgedacht?" fluchte ich.
Die Tänzer waren mittlerweile verschwunden.
"Zeigt euch ihr Feiglinge!" rief ich.
"Was tust du?" fragte Cassy.
"Improvisieren" erklärte ich.
Die dunklen Schatten krochen auf uns zu.
"Wir wollen nur sie, Hase" sagte eine krächzende Stimme.
"Oh das tut mir leid. Die hab ich mir in der Bücherei geschnappt. Hättet ihr schneller sein müssen. Sucht euch einen eigenen Bestseller!" antwortete ich und schob Cassy hinter mich.
Ich musste dringend wach werden und Cassy auch. Aber wie?

Die Schatten krochen näher, zähflüssig wie Teer, ihre Formen immer wieder wechselnd, als könnten sie sich nicht entscheiden, welches Monster sie sein wollten. Das Knurren des Wolfes wurde lauter, bedrohlicher. Cassy klammerte sich an meinen Arm. 

„Fips, wir müssen hier raus!“ rief sie panisch. 

„Ach was, wirklich?“ Ich versuchte, nicht zu zeigen, wie nervös ich selbst war. Mein Herz hämmerte wie ein Schlagzeugsolo. „Glaub mir, ich arbeite dran! Aber Träume können verdammt stur sein!“ 

Die krächzende Stimme meldete sich wieder, schneidend und eiskalt: „Sie gehört nicht hierher. Gib sie uns, und wir lassen dich gehen.“ 

Ich lachte trocken, obwohl mir gar nicht nach Lachen zumute war. „Oh, ihr wollt sie? Dann kommt und holt sie! Aber ich warne euch: Ich bin der Osterhase. Und ich hab echt scharfe Zähne.“ 

Cassy starrte mich an, als wäre ich komplett übergeschnappt. Wahrscheinlich war ich das auch. Aber ich hatte keine Zeit, mir Gedanken über meinen mentalen Zustand zu machen. 

Die Schatten hielten kurz inne, als würde meine Drohung sie tatsächlich zum Nachdenken bringen. Doch dann kam der Wolf mit einem Sprung auf uns zu. 

„Runter!“ schrie ich und warf mich mit Cassy zu Boden. Der Schattenwolf landete knapp über uns und zischte zornig, als wir ihm entwischten. 

„Fips, wir müssen aufwachen!“ Cassys Stimme überschlug sich vor Angst. 

„Ja, danke für den Tipp!“ rief ich zurück und versuchte verzweifelt, an etwas zu denken, das mich aus diesem Traum katapultieren würde. Normalerweise ging das einfach so, aber jetzt... nichts. 

Ich erinnerte mich an etwas, das ich mal gehört hatte: Wenn man im Traum fällt, wacht man auf. 

„Okay, Cassy, hör zu!“ sagte ich schnell. „Wir müssen springen.“ 

„Was?“ Ihre Augen wurden groß. „Wohin denn bitte?“ 

„Irgendwo runter. Egal, Hauptsache tief!“ Ich sah mich hektisch um und entdeckte einen schmalen Spalt, der plötzlich mitten im Boden aufgetaucht war. Er führte ins Nichts, tief und dunkel. Perfekt. 

„Das ist verrückt!“ protestierte Cassy, als ich sie in Richtung des Spalts zog. 

„Willkommen in meiner Welt!“ rief ich und hielt ihre Hand fest. „Auf drei, okay? Eins... zwei...“ 

Der Wolf sprang erneut, und ohne zu warten, riss ich Cassy mit mir in die Tiefe. 

Der Fall war unendlich. Der Wind rauschte in meinen Ohren, und mein Magen zog sich zusammen, als ob ich in einer Achterbahn saß. Cassy schrie, und ich war mir nicht sicher, ob ich nicht auch schrie. 

Plötzlich riss mich ein unsichtbarer Sog aus dem Traum, und ich schoss hoch – zurück in mein Bett im Hotel. Mein Herz klopfte wie verrückt, und ich war klatschnass geschwitzt. 

„Cassy!“ rief ich, als ich mich umsah. Doch sie war nicht da. 

Minty stürzte ins Zimmer. „Fips, was ist los? Ich hab dich schreien gehört!“ 

„Cassy,“ murmelte ich, noch immer halb im Traum. „Sie... sie war in meinem Traum. Die Albträume haben sie gesucht. Und jetzt...“ 

Minty runzelte die Stirn. „Albträume? Das klingt nicht gut.“ 

Ich sprang auf und begann hektisch, mich anzuziehen. „Wir müssen sie finden. Und zwar schnell. Ich hab das Gefühl, dass sie in großen Schwierigkeiten steckt.“ 

Ich rannte durch die Flure des Hotels, mein Atem ging schwer, und meine Gedanken überschlugen sich. Hinter mir hörte ich Mintys schnelle Schritte, aber ich kümmerte mich nicht darum. 

„Fips, wir sollten nichts überstürzen!“ rief sie keuchend. „Vielleicht war es ja gar nicht echt!“ 

„Oh, es hat sich ziemlich echt angefühlt!“ erwiderte ich und spürte, wie meine Stimme vor Anspannung bebte. „Ich habe sie allein dorthin geschickt, Minty! In diese gefährliche Welt! Und jetzt... Wer weiß, was diese Träume mit ihr machen!“ 

Mit hektischen Bewegungen tastete ich meinen Gürtel ab, suchte nach dem richtigen goldenen Ei. Ich hatte sie alle dabei – meine kleinen Notfallhelfer. Einer von ihnen war der Schlüssel, um in Zekes Welt zu reisen. Aber welcher? 

„Verdammt!“ zischte ich, als mir klar wurde, dass ich nicht einmal genau wusste, wie ich den richtigen finden sollte. Cassy war dort draußen, allein. Und Zeke... jeder wusste, dass der Typ völlig irre war. 

„Fips, warte doch mal!“ Minty hechtete hinter mir her. Ihre Stimme klang erschöpft, aber auch besorgt. 

Ich ignorierte sie. Meine Finger fuhren weiter über die Eier an meinem Gürtel, suchten verzweifelt nach dem einen, das wir jetzt so dringend brauchten. 

Plötzlich – *WUMM!* 

Eine Tür öffnete sich direkt vor mir. Ich hatte keine Chance zu reagieren und prallte mit voller Wucht mit dem Kopf dagegen. Sterne tanzten vor meinen Augen, und ich taumelte zurück. Schmerz explodierte in meinem Schädel, und benommen ging ich zu Boden. 

„Fips!“ Mintys Stimme war ein besorgter Schrei, doch sie klang weit weg. 

Ich blinzelte und schüttelte den Kopf, versuchte, wieder klar zu sehen. Die pochende Stelle an meiner Stirn fühlte sich an, als hätte jemand mit einem Hammer draufgehauen. 

„Fips?“ 

Die tiefe, vertraute Stimme ließ mich erstarren. Ich hob den Blick und starrte in das Gesicht von Klaus. 

Mein älterer Bruder stand im Türrahmen, sein imposanter roter Mantel wirkte fast unpassend in diesem Moment. Doch es war nicht Klaus, der meine Aufmerksamkeit vollständig fesselte. Es war der Mann, den er stützte. 

Er war gehüllt in einen langen, weißen Mantel, der schmutzig und zerfleddert war. Der Stoff schleifte beinahe über den Boden, so gebeugt und kraftlos hing er in Klaus’ Armen. Auf seinem Kopf saß ein weißer Zylinder, der mit kleinen, seltsam anmutenden Knochen verziert war. 

Knochen, die mir viel zu vertraut vorkamen. 

Langsam hob der Mann den Kopf. Sein Gesicht war bleich wie Schnee, seine Augen blutunterlaufen und dunkler, als ich sie je gesehen hatte. 

„Rhun?“ flüsterte ich, ungläubig. 

Klaus hielt ihn fest, damit er nicht zu Boden fiel. 

„Alter, was ist denn mit dir passiert?“ entwich es mir, bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, was ich sagen sollte. Schock durchzog mich wie ein kalter Windstoß, als ich meinen Bruder in diesem Zustand sah. 

Achtsam jammern mit dem Osterhasen | Eine Julien Bam FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt