Einmal durch die Hölle und zurück

112 10 13
                                    

Der Flur war still, als ich mich von den Brüdern entfernte, und das gedämpfte Licht warf lange Schatten an die Wände. Niemand folgte mir, und ich war dankbar dafür. Ich brauchte Luft, Raum zum Nachdenken. 

Ich hob meinen Arm, mein Blick fiel auf den goldenen Armreif. Es war ein Geschenk.

„Azhar?“ fragte ich leise. 

Der Armreif begann, sich zu bewegen, ein warmes, vertrautes Kribbeln, das sich über meine Haut ausbreitete. Innerhalb von Sekunden erschien der kleine goldene Drache auf meinem Handrücken. Er rieb sich verschlafen die Augen und gähnte, als hätte ich ihn aus einem tiefen Traum gerissen. 

„Dieser Zeke hat uns ziemlich erschreckt,“ murmelte er schläfrig und sah mich mit seinen funkelnden, bernsteinfarbenen Augen an. 

Ich nickte. „Ja, mich auch.“ 

„Du hast alles mitbekommen, oder?“ fragte ich. 

„Natürlich. Das war nicht zu überhören,“ antwortete Azhar und streckte seine kleinen Flügel. Dann setzte er sich aufrecht hin, die Haltung eines Geschöpfes, das weit klüger war, als sein winziges Format vermuten ließ. „Was wirst du tun?“ 

Ich schüttelte langsam den Kopf. „Wenn ich das bloß wüsste. Es klingt so … irrsinnig, und ich weiß einfach viel zu wenig darüber.“ 

Azhar musterte mich aufmerksam, dann sprach er. „Dark scheint die dunkle Seite von Rhun zu sein. Ich habe einige Gespräche der Wächter belauscht.“ 

„Wächter?“ fragte ich verwirrt. 

„Die vier Brüder,“ erklärte Azhar mit einem Tonfall, der gleichzeitig geduldig und lehrreich war. „Sie sind die Wächter des Gleichgewichts. Sie halten die Welten in Balance. Deshalb ist es so schlimm, dass einer von ihnen … na ja, unvollkommen ist.“ 

Seine Worte trafen mich wie ein Schlag. „Also denkst du auch, dass dieser Trank sein muss?“ 

Azhar neigte seinen kleinen Kopf zur Seite und schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Ich bin noch nicht lange genug auf der Welt, um das mit Sicherheit zu sagen. Aber aus Erzählungen weiß ich, dass der Sandmann einst sehr mächtig war. Er genoss großes Ansehen, Respekt – vielleicht sogar Liebe. Doch irgendetwas hat das verändert. Jetzt ist er … so.“ 

„So wie jetzt,“ murmelte ich und ließ meinen Blick auf den Boden sinken. Zekes Grinsen, sein Wahnsinn, seine unberechenbare Art – das alles war vielleicht nur eine Maske, die er trug, um etwas viel Dunkleres zu verbergen. 

„Aber die Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen,“ fuhr Azhar fort. „Die interessantere Frage ist doch: Warum du? Warum nicht einer seiner Brüder? Oder jemand anderes, der ihn hasst, dem es egal wäre, was mit ihm passiert?“ 

Ich hob den Kopf und sah Azhar an. Seine bernsteinfarbenen Augen schienen direkt in meine Seele zu blicken, und ich fühlte, wie eine seltsame Wärme in mir aufstieg. 

„Aus irgendeinem Grund,“ fügte er hinzu, „scheint er dir zu vertrauen.“ 

Vertrauen. 

Das Wort hallte in meinem Kopf wider, während ich Azhars Worte verarbeitete. Zeke, der Wahnsinnige, der Unberechenbare, vertraute mir. Und ausgerechnet ich sollte entscheiden, ob ich ihm durch diese Qualen helfen würde – oder ob ich weglaufen würde, wie ich es vielleicht in jeder anderen Situation getan hätte. 

Ich wusste, dass ich mich entscheiden musste. Aber egal, welchen Weg ich wählte, es würde kein Zurück geben.

Ich lief weiter den Flur entlang, während Azhars Worte in meinem Kopf nachhallten. Warum ich? Das war tatsächlich die entscheidende Frage. Zeke hatte Brüder, Verbündete, wahrscheinlich sogar Feinde, die ihm weniger gewogen waren als ich – warum also wählte er ausgerechnet mich? 

Achtsam jammern mit dem Osterhasen | Eine Julien Bam FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt