Ich hätte es lassen sollen. Ich hätte es ignorieren können, wie ich es so oft tat, wenn es um Menschen ging. Doch der Klang ihres Traums hatte sich verändert. Das süße, melodische Flüstern war kalten, ungreifbaren Tönen gewichen, und das ließ meine Neugier erwachen.
Lautlos schlich ich in Cassys Zimmer. Sie lag dort, eingerahmt von den silbrigen Fäden ihres Traums, die wie ein Netz über ihr schwebten und sie umhüllten. Sie sah friedlich aus, aber ihre zuckenden Finger und die kleine Falte auf ihrer Stirn erzählten eine andere Geschichte.
Ich schwang mich auf das Fußteil des Bettes und setzte mich hin. Die Traumfäden tanzten vor mir, flüsterten, zogen an mir wie unsichtbare Hände. Ein letzter Moment der Zurückhaltung blitzte auf. Ich könnte umdrehen, das Zimmer verlassen und die Nacht sich selbst überlassen.
Aber das wäre nicht ich gewesen.
Langsam streckte ich meine Hand aus. Die Fäden fühlten sich warm und lebendig an, fast wie Haut. Sie wickelten sich sanft um meine Finger, dann fester um meine Arme und Beine, bis ich das Ziehen spürte. Ich schloss die Augen und ließ es geschehen.
Mit einem Ruck verschwand die Welt.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand ich in einem kalten, kahlen Flur. Der Boden war aus grauem Linoleum, die Wände in einer tristen Mischung aus Beige und Weiß gestrichen, die unangenehm flackernde Neonlampen erhellten. Ein Krankenhausflur, so nüchtern und steril, dass allein sein Anblick mich unruhig machte.
Es war vollkommen still.
Kein Flüstern. Kein Rascheln. Kein Klopfen von Schuhen auf dem Boden. Nur die bedrückende, leblose Stille, die mich umgab.
Ich sah mich um, aber Cassy war nirgends zu sehen.
Mein Blick wanderte zu den Türen, die den Flur säumten. Jede Tür war identisch: altmodische Türgriffe, kleine Fenster mit Milchglas, und alle geschlossen. Ich ging auf eine zu, legte die Hand auf den Griff und drückte ihn herunter. Nichts.
„Interessant“, murmelte ich leise.
Die Traumfäden, die mich hierhergebracht hatten, waren nun schwächer zu spüren, fast wie ein Hauch. Doch sie waren da, und ich konnte ihre Energie in den Wänden, im Boden, überall um mich herum fühlen. Der Traum war instabil, und das machte ihn gefährlich – und faszinierend.
Ich schloss die Augen und versuchte, Cassy zu erspüren. Normalerweise konnte ich die Präsenz eines Träumers fühlen, sobald ich ihren Traum betrat. Doch hier?
Hier war nichts.
Ich öffnete die Augen wieder und sah den Flur entlang. Ganz am Ende, fast verborgen im Schatten, war eine Tür einen Spalt breit geöffnet. Ein kalter Hauch kam daraus hervor, und ein dunkles Gefühl breitete sich in meiner Brust aus.
„Na schön“, sagte ich leise, „sehen wir uns das mal an.“
Langsam setzte ich mich in Bewegung.
Ich blieb wie angewurzelt stehen, den Blick auf die Szene vor mir gerichtet. Das Zimmer war für ein Krankenhaus überraschend lebendig – die gemalten Bilder an den Wänden, die Lichterkette über dem Bett. Doch all das konnte die bedrückende Atmosphäre nicht mildern, die der Anblick des kleinen Mädchens im Bett hervorrief.
Cassy.
Nicht die Cassy, die ich kannte – die mit den scharfen Worten und dem unbezwingbaren Willen –, sondern eine jüngere Version von ihr. Ein zerbrechliches Kind mit blasser Haut, dünnen Armen und Augen, die von Krankheit und Müdigkeit schwer geworden waren. Und doch war da ein Funken in ihr, ein schwaches Leuchten, das nicht erlöschen wollte.
Neben ihr saß eine Frau, offensichtlich ihre Mutter. Ihr Gesicht war verweint, und ihre Stimme zitterte, als sie sprach.
„Ich will nach Hause, Mama,“ wimmerte die junge Cassy, ihre Stimme so dünn, dass ich fast Mühe hatte, sie zu verstehen.
Die Mutter schluckte schwer, kämpfte gegen die Tränen, die in ihren Augen standen. „Ich weiß, Schatz, aber es geht noch nicht. Die Ärzte, sie...“ Sie brach ab, biss sich auf die Lippen und hielt Cassys Hand vorsichtig, fast so, als hätte sie Angst, sie könnte zerbrechen.
„Ich hasse die Ärzte!“ Cassys Stimme wurde lauter, voller Verzweiflung. „Ich will nach Hause!“
Die Tränen, die sie nicht mehr zurückhalten konnte, liefen über ihre Wangen. Ihre Mutter hielt ihre Hand fester, beugte sich zu ihr und flüsterte beruhigende Worte, doch ihre eigene Verzweiflung war unübersehbar.
Ich konnte meinen Blick nicht von der Szene abwenden. Die kleine Cassy, mit den Zugängen an Hand und Arm, sah aus, als könnte sie jeden Moment verschwinden. Aber dieses Leuchten in ihr – dieses unverwechselbare Funkeln – war immer noch da.
Plötzlich begriff ich, dass das hier kein gewöhnlicher Traum war.
Das war eine Erinnerung.
Eine Erinnerung, die sich tief in ihr eingegraben hatte, wie eine Narbe, die niemals heilt. Es war eine Qual, die sie in ihrem Innersten trug, die wahrscheinlich jede Nacht aufs Neue in ihr lebendig wurde.
Ich spürte, wie sich meine Brust zusammenzog. Ich hatte viele Träume gesehen, Albträume, Wünsche, Fantasien. Doch Erinnerungen wie diese waren anders. Sie hatten eine Kraft, die selbst mich aus der Fassung bringen konnte.
„Das bist du, nicht wahr?“ flüsterte ich leise, obwohl ich wusste, dass niemand mich hören konnte. „Kleine Cassy. Verloren in einem Ort, den du nicht verlassen konntest.“
Ich hatte erwartet, dass sie eine Erinnerung an die Krankheit mit sich trug, aber das hier... das war etwas Tiefgehenderes. Eine ungesprochene Wunde, die sie vor allen verborgen hatte – selbst vor mir, obwohl ich so viele Träume durchstreift hatte.
Eine Stimme in meinem Kopf drängte mich, einzugreifen. Ich könnte die Szene verändern, ihr Trost schenken, ihr zeigen, dass sie nicht allein war. Aber etwas hielt mich zurück. Dies war nicht mein Moment, nicht mein Ort.
Ich stand da, beobachtete und versuchte zu verstehen.

DU LIEST GERADE
Achtsam jammern mit dem Osterhasen | Eine Julien Bam FF
FanfictionKeine Panik, Leute - das hier wird kein Buch über Achtsamkeit. Ich weiß, der Titel klingt, als ob gleich Meditations-Tipps und Rezepte für Smoothies folgen würden. Keine Sorge, hab selbst keine Ahnung von dem Zeug. Aber irgendeinen Titel musste das...