Der innere Sturm

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Ich saß draußen vor dem Hotel im hohen Gras, den Rücken gegen einen alten Baum gelehnt, und blickte durch die lichten Äste auf den stillen See. Die Ruhe des Moments schien unpassend, fast wie ein Hohn angesichts des Chaos, das uns umgab.

Die Schritte von Fips im Gras waren leise, doch ich hörte sie sofort. Er ließ sich neben mich fallen, seine Hände spielten nervös mit einem Stück Gras.

„Zeke, er..." begann er, seine Stimme unsicher und voller Sorge.

„Ich weiß, Fips." Ich wandte mich zu ihm um und sah ihn an, mein kleiner Bruder, der sich bemühte, die Last all dessen zu verstehen, was passiert war.

„Aber willst du denn gar nichts dagegen tun?" Seine großen Augen glänzten, Tränen, die er offensichtlich zurückzuhalten versuchte.

Ich seufzte tief und richtete meinen Blick wieder auf den See. „Ich kann nichts tun, Fips. Alles, was ich tun könnte, würde ihm nur mehr wehtun. Und genau das will er."

Fips schniefte und zog die Knie an seinen Körper. „Das verstehe ich nicht. Ich verstehe das alles nicht. Warum hat Eos Cassy..." Seine Stimme brach, und er konnte den Satz nicht beenden.

Ich hob meinen Arm, und er lehnte sich sofort gegen mich. Sein kleiner Körper zitterte leicht, und ich legte meine Hand beruhigend auf seinen Rücken.

„Ich dachte, Zeke mag nur dich," sagte er leise, seine Stimme bebend.

„Das tut er auch," antwortete ich, ohne zu zögern. „Aber das hier ging um weit mehr als mögen. Eos hat Iris damals geliebt. Das ist etwas anderes als das, was wir Brüder füreinander empfinden. Unsere Verbindung ist stark, weil das Schicksal uns zusammengeführt hat, weil wir Brüder sind. Aber die Liebe, die Eos für Iris empfand, war etwas anderes. Etwas Zerbrechlicheres. Wahrscheinlich auch Schöneres."

Fips blickte zu mir auf, sein Gesicht eine Mischung aus Traurigkeit und Verwirrung. „Und das haben wir ihm genommen?"

Ich nickte langsam. „Ja. Und Eos hat seinen Zorn auf Zeke gerichtet, weil er derjenige war, der entschieden hat, Iris zur Hexe zu machen. Die, die den Himmel verdunkelt hat. Er hat es getan, um Eos zu retten – und damit genau das zerstört, was Eos am meisten bedeutete."

Fips senkte den Kopf, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Aber Zeke mochte Cassy doch gar nicht. Bevor wir zu euch aufgebrochen sind, hat er sie zum Weinen gebracht."

Ein trauriges Lächeln schlich sich auf meine Lippen. „Liebe ist kompliziert, Fips. Besonders, wenn man sie sich seit Jahrhunderten verbietet."

Er machte ein Geräusch, das halb ein Schluchzen und halb ein entnervtes Schnauben war. „Ich verstehe dieses Ding mit der Liebe nicht. Das klingt irgendwie... nicht schön."

„Es ist schön," antwortete ich langsam, „aber es macht einen auch verwundbar. Sehr verwundbar. Cassy war deine Freundin, das heißt, du hast sie in gewisser Weise auch geliebt. Und genau deswegen tut es jetzt so weh."

„Und wann hört das auf?" fragte er mit bebender Stimme.

Ich schloss kurz die Augen, spürte, wie der Schmerz in mir widerhallte. „Ich schätze, nie. Aber du wirst lernen, mit dem Schmerz zu leben."

„Und Zeke?"

Ich hielt inne, suchte nach den richtigen Worten. „Ich hoffe, dass auch er es lernt."

Doch innerlich zweifelte ich daran. Seit wir zurückgekehrt waren, hatte Zeke sich in seinem Schmerz verkrochen. Er betäubte sich mit seinem eigenen Sand, einer magischen Substanz, die in etwa den Drogen der Menschen entsprach. Er hatte den neuen Siegelprozess, den Seraphine und ich durchgeführt hatten, grinsend hingenommen – selbst als er schrie vor Schmerz.

Das Grinsen eines gebrochenen Mannes.

Ich wusste nicht, wie ich ihn wieder zusammenfügen konnte. Aber ich wusste, dass ich es musste. Irgendwie.

Ich hatte Fabio losgeschickt, um sich um das Traumland zu kümmern. Es war eine provisorische Lösung, ein Pflaster auf eine klaffende Wunde. Zeke musste seiner Aufgabe selbst nachkommen – etwas, das er in seinem derzeitigen Zustand unmöglich bewältigen konnte.

„Fips!" Klaus' Stimme rief nach unserem jüngsten Bruder, der noch neben mir saß.

„Na, geh schon. Es gibt bestimmt heiße Schokolade mit Marshmallows," sagte ich sanft und tätschelte seine Schulter. Fips zögerte kurz, dann stand er auf und trottete in Richtung des Hotels.

Ich wartete, bis er außer Sicht war, bevor ich mich ebenfalls erhob. Der Sturm in mir, den ich so lange unterdrückt hatte, begann sich zu regen. Ich hatte versagt – kläglich. Ich hatte meine Brüder nicht schützen können, nicht vor Eos, nicht vor der Welt, nicht einmal vor sich selbst.

Mit einem kräftigen Ruck schob ich die Glastüren des Gewächshauses auf und trat hinein. Zwei Schritte schaffte ich noch, bevor meine Knie nachgaben und ich auf dem Boden landete. Der Schlag der Türen, die hinter mir zufielen, hallte in dem Raum wider.

Versagt.

Ich weinte nicht. Das tat ich nie. Die Fähigkeit, wie ein hilfloses Kind zu schluchzen, hatte ich damals im Heim zurückgelassen, zusammen mit so vielen anderen Schwächen. Doch die Bilder in meinem Kopf ließen nicht locker. Fips' trauriges Gesicht. Zeke, gebrochen und fast irre vor Schmerz. Eos' triumphierender Blick, als er Cassy getroffen hatte.

Ein wütender Schrei entfuhr meiner Kehle, heiser und rau wie das Knirschen von Sand.

„Und das alles wegen dir, kleines Menschenmädchen," flüsterte ich bitter, meine Hände auf den Boden gepresst. „Du hättest nie den Weg zu uns finden dürfen. Und doch hast du es getan."

Meine Worte hallten dumpf im Raum wider, und mit jedem Atemzug fühlte ich, wie die Wut in mir wuchs. Der Gedanke schlich sich wie ein Gift durch meinen Geist: Cassy war schuld. Sie hatte uns ins Chaos gestürzt.

Aber das war nicht fair.

Cassy hatte so viel für uns getan – vor allem für Zeke. Sie hatte unsere Dunkelheit ertragen und dafür mit ihrem Leben bezahlt.

Ich hob meinen Blick langsam, als ich eine Bewegung wahrnahm. Direkt vor mir schwebte Seraphine, ihre durchscheinenden, rosafarbenen Flügel fächelten leise. Sie sah mich mit scharfen, durchdringenden Augen an.

„Steh auf, Zahnfee," sagte sie mit kühler Schärfe in der Stimme.

Ich atmete schwer, hielt ihren Blick aber stand.

„Steh auf," wiederholte sie langsam, jede Silbe wie ein Tropfen kaltes Wasser.

Langsam, wie durch zähen Nebel, gehorchte ich. Meine Beine fühlten sich schwer an, doch ich richtete mich auf.

„Du musst stark für sie sein, und das weißt du," fuhr Seraphine fort, während sie nun auf meiner Augenhöhe schwebte. „Was soll dieser Anflug von Schwäche? Zeke muss wieder klar im Kopf werden. Ihr müsst aufhören, Fips in Watte zu packen. Und dann müsst ihr euch endlich dem unausweichlichen stellen."

Ihre Worte stachen wie Dornen, und ich runzelte die Stirn. „Und was soll das sein?" fragte ich, bemüht, meine Fassung wiederzugewinnen.

Seraphine flog ein Stück näher, ihre leuchtenden Augen brannten sich in meine. „Das weißt du genau, Wächter."

Das Wort traf mich wie ein Schlag.

„Eos' Pläne sind nicht vorbei," fügte sie mit schneidender Klarheit hinzu. „Es ist nur der Anfang. Und wenn du zögerst, wird das, was noch kommt, alles zerstören, was du liebst."

Die Schwere ihrer Worte lastete auf meinen Schultern, doch in mir regte sich etwas – nicht Wut, nicht Schmerz, sondern ein Funke Entschlossenheit.

„Dann werde ich dafür sorgen, dass er es nicht schafft," sagte ich leise, aber fest.

Seraphine nickte und flog zurück zur Tür. „Das hoffe ich, Wächter. Das hoffe ich."

Achtsam jammern mit dem Osterhasen | Eine Julien Bam FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt