Achtsam jammern mit dem Osterhasen

130 16 18
                                    

Pov Fips

Ich saß mit Azhar am Tisch. Zwischen uns stand ein Schachbrett, die Figuren in einem Spiel eingefroren, das wir seit über einer Stunde nicht mehr angerührt hatten. Azhar starrte auf das Brett, sein Schweif schlug abwesend gegen den Stuhl. Ich hingegen spürte, wie eine Last auf meiner Brust drückte, schwerer mit jedem Moment der Stille.

„Ich habe das Gefühl, meine Brüder verschweigen mir so viel," brach ich schließlich das Schweigen.

Azhar hob den Kopf und musterte mich. „Wie kommst du darauf?"

Ich seufzte tief, meine Finger spielten unruhig mit einem Bauern. „Ich bin der Einzige, der nicht versteht, was mit Zeke los ist, oder warum Eos das getan hat. Dabei war Cassy meine Freundin. Ich habe von Anfang an gesagt, dass Rhun und Zeke sie in Ruhe lassen sollen. Aber keiner hat auf mich gehört. Und jetzt ..." Meine Stimme brach ab, und ich starrte auf das Schachbrett, dessen Anordnung plötzlich sinnlos erschien.

„Ich habe etwas gefunden, was ich dir zeigen wollte," sagte Azhar unerwartet. Sein Ton war leise, fast zögerlich, während er ein kleines Notizbuch aus seinem Beutel zog und es mir reichte.

„Was ist das?" fragte ich und nahm es vorsichtig.

„Cassy hat immer darin geschrieben, wenn sie die Zeit dazu hatte," antwortete er, und seine bernsteinfarbenen Augen schienen besorgt.

Ich betrachtete das Notizbuch, seine Ecken waren abgenutzt, der Einband verblasst. Ich schlug die erste Seite auf.

„Achtsam jammern mit dem Osterhasen" stand dort in geschwungenen Buchstaben.

„Was?" murmelte ich verwirrt. Mit krauser Stirn blätterte ich weiter. Die nächste Seite enthielt etwas mehr Substanz, ihre Worte zogen mich sofort in ihren Bann.

"So wunderschön," murmelte die Gestalt vor sich hin und rührte sich kein Stück vom Boden. Er lag da zwischen zwei Regalen, als ob es das Normalste der Welt wäre. Zögernd trat ich näher und hielt mich an meinem improvisierten „Schutz" fest – dem Staubwedel und einem dicken Buch.

„Hallo," sagte ich schließlich vorsichtig, „was machen Sie da? Wir haben geschlossen."

Langsam richtete sich die Person auf, und sofort stachen mir die großen, hasenartigen Ohren ins Auge, die aus seinem wuscheligen, grauen Haar hervorstanden. Er blinzelte mich an, seine Augen groß und leuchtend, als ob ich das Seltsamste war, das er je gesehen hatte. „Ein Mensch? Du bist doch ein Mensch, oder? Oh Gott, bist du echt!"

Ich blätterte weiter durch das Notizbuch, die Seiten raschelten leise in der stillen Luft. Cassys Handschrift sprang mir entgegen – mal energisch und klar, mal zittrig, fast schon chaotisch. Es war, als könnte ich ihre Stimmung in den Schwüngen und Linien lesen. Ich sah auf zu Azhar, der mich aufmerksam beobachtete.

„Das ... sie hat alles aufgeschrieben. Von unserer ersten Begegnung bis zu unserer gesamten gemeinsamen Reise," sagte ich erstaunt und spürte, wie meine Stimme vor Aufregung zitterte.

Azhar nickte langsam, seine goldenen Augen blitzten im schwachen Licht. „Sie hat ihre Welt in diese Seiten gegossen. Sie wollte, dass jemand es versteht, denke ich."

Ich lächelte schwach und strich sanft über die nächste Seite. „Das sind die ersten Buchstaben in meinem Leben, die wirklich spannend sind," gestand ich, fast schon ehrfürchtig.

Azhar schnurrte leise, seine Pfote ruhte auf dem Tisch. „Dann lies sie mit deinem ganzen Herzen, Fips. Sie hat sie für jemanden geschrieben, der zuhören kann."

Der Abend kommt schnell, und das Hotel wurde still. Jetzt sitze ich im warmen Licht einer Kerze an Rhuns großem Schreibtisch. Vor mir liegt ein leeres Blatt Papier, daneben eine schwarze Feder, die ich mit zitternder Hand halte. Cassys Notizbuch liegt neben mir, aufgeschlagen auf einer Seite, die mich inspiriert hatte.

„Bücher können dich an die schönsten Orte führen," hatte Cassy einmal zu mir gesagt, ihre Augen leuchteten dabei wie der Nachthimmel voller Sterne. Ich hatte nie ganz verstanden, was sie meinte – bis jetzt.

Vielleicht, dachte ich, kann ich ein eigenes Buch schreiben. Eines, das mich an meine schönsten Orte führt. Orte, an denen Cassy noch lebt, lacht und mir von ihren verrückten Ideen erzählt. Orte, die niemand außer uns beiden kennt.

„Okay," flüster ich leise, fast nur für mich. „Dann fange ich an."

Ich setze die Feder auf das Papier und beginne zu schreiben. Azhar, der auf dem Boden neben mir liegt, richtete sich auf, als das erste Wort entstand. Als ich das Blatt vollendet habe, ni er es vorsichtig zwischen seine Pfoten und legte es zum Trocknen auf den Boden.

Also, du willst meine Geschichte hören? Keine Sorge, ich quäle dich nicht mit meinem Geburtsjahr oder irgendeiner "Wie alles begann"-Nummer. Wir fangen hier und jetzt an. Genau da, wo ich gerade sitze: auf einer dieser verdammten Inseln mitten im Nirgendwo. Ja, die Osterinseln, wie ironisch. Die Hüter der Jahresfeste hatten offenbar nicht mal mitbekommen, das ich hier her verschleppt wurde.

„Das ist gut, Fips," schnurrte er sanft. „Mach weiter."

Und so schreibe ich. Die Feder fliegt über das Papier, die Worte strömen aus mir heraus, als würden sie nur darauf warten, befreit zu werden. Cassy lebt in meinen Erinnerungen, und ich erzähle ihre Geschichten, unsere Geschichten, mit jeder neuen Zeile.

Das Notizbuch hilft mir. Ihre Worte führen mich, erinnern mich an Dinge, die ich fast vergessen hätte. Der Klang ihres Lachens, die Art, wie sie Falten in ihre Stirn legte, wenn sie nachdachte. Alles kehrt zurück, lebendig, als wäre sie noch hier.

Azhar legt Blatt um Blatt sorgfältig nebeneinander, bis der Boden wie eine Karte unserer Freundschaft aussieht. Ich schreibe weiter, bis meine Hand zittert und die Kerze langsam niederbrennt.

Irgendwann lässt die Erschöpfung meine Augen schwer werden. Mein Kopf sinkt nach vorn, die Feder rutscht aus meinen Fingern. Und bevor ich es merke, bin ich eingeschlafen, umgeben von den Geschichten, die ich so dringend festhalten wollte.

Azhar legt eine Pfote auf meinen Arm, sieht mich an und lächelt sanft. „Schlaf gut, Fips," flüstert er, seine Stimme wie ein Hauch im Schein der letzten Flamme.

Achtsam jammern mit dem Osterhasen | Eine Julien Bam FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt