Der Anfang bestand darin, überhaupt erst einmal den richtigen Weg zu finden. Als wir das Hotel hinter uns ließen, tauchte die untergehende Sonne den Horizont in ein warmes Orange, während die Schatten länger wurden. Der Pfad führte uns in den Märchenwald, einen Ort, der mich jedes Mal aufs Neue irritierte.
Je weiter wir gingen, desto dunkler und dichter wurde der Wald. Die Bäume schienen ihre Äste wie Finger nach uns auszustrecken, während der Wind leise durch das Laub flüsterte. Azhar saß entspannt auf meiner Schulter, summte ein fröhliches Lied und schien sich überhaupt nicht von der Atmosphäre beeindrucken zu lassen.
Plötzlich stießen wir auf zwei Gestalten, die so seltsam wirkten, dass ich erst dachte, ich hätte Halluzinationen. Der eine trug einen blauen Jogginganzug mit einer dazu passenden Cap, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Der andere hatte leuchtend orange Haare, die zu einem Zopf auf der linken Seite ihres Kopfes gebunden waren.
Azhar beugte sich leicht vor, musterte die beiden neugierig und fragte: „Habt ihr euch verlaufen?"
„Quatsch!" antwortete der Junge im Jogginganzug, während er seine Hände lässig in die Taschen steckte. „Wir haben 'ne Spur gelegt und suchen jetzt nur was zu essen. Unsere Eltern haben uns hier ausgesetzt."
„Da würde ich an eurer Stelle das Jugendamt anrufen," sagte ich, völlig perplex über diese Aussage.
„Schade ist es nur ums jute Böreck. Ich hab Hunger," seufzte das Mädchen, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. Mit dieser eigenartigen Feststellung liefen die beiden einfach an uns vorbei, als wäre nichts gewesen.
„Da hinten war eine Pommesbude!" rief ich ihnen hinterher. Die beiden drehten sich nicht einmal um. Stattdessen verschwanden sie gemächlich zwischen den Bäumen.
„Was haben die hier bloß alle mit diesem Böreck?" murmelte ich, während ich mich schüttelte und den Weg fortsetzte.
Azhar kicherte leise. „Vielleicht ist das sowas wie ein Nationalgericht?"
„Ich weiß nicht," erwiderte ich nachdenklich. „Der Märchenwald erscheint mir nicht gerade weit genug entwickelt, um ein Nationalgericht zu haben."
Azhar lachte leise und klopfte mir auf die Schulter. „Du solltest den Märchenwald nicht unterschätzen. Immerhin gibt es hier Pommesbuden – und anscheinend eine nationale Vorliebe für ... Böreck."
Ich grinste schief, während wir weitergingen. Der Märchenwald hatte seine eigenen Regeln.
Es war bereits dunkel, als wir vor der Bibliothek standen. Doch drinnen brannte noch Licht, ein beruhigendes Zeichen. Ich war erleichtert – je schneller wir das Buch finden, desto weniger Ärger würde ich von Klaus bekommen. Er war nicht gerade begeistert davon, dass ich mich manchmal aus dem Staub machte, ohne Bescheid zu sagen. Aber ehrlich, sie hätten mich doch sowieso nicht gehen lassen.
Wir überquerten die Straße, und gerade als ich die Tür erreichen wollte, öffnete sie sich von selbst. Ein älterer Mann trat heraus, unter dem Arm mehrere Bücher geklemmt. Ich nickte ihm höflich zu und trat ein.
Der Geruch von altem Papier und angestaubtem Wissen schlug mir entgegen. Es war wie ein unsichtbarer Mantel, der mich umfing. Azhar sprang von meiner Schulter und setzte sich auf einen kleinen Stapel Bücher.
„Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?" Eine Frau stand hinter dem Tresen, sie musterte mich mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis.
Ich kratzte mich am Kopf. „Ich suche eine ... äh ... Buchstaben-WG. Es ist ziemlich alt, hat Risse am Einband und ... na ja, es hat Cass... kastanienbraune Farbe." Ich hätte fast Cassys Namen erwähnt, doch die Vorstellung, alles erklären zu müssen, war mir zu heikel.
Die Frau zog eine Augenbraue hoch. „Worum soll es denn in diesem Buch gehen?"
Ich scharrte mit einem Fuß auf dem Boden. „Das weiß ich nicht genau. Eine Freundin hat mir davon erzählt. Sie meinte, es sei besonders, fast magisch. Der Beginn eines Abenteuers."
Ihr Blick wurde skeptischer. „Tut mir leid, für so einen Unsinn habe ich keine Zeit." Sie drehte sich weg, ohne mir weiter zuzuhören.
Ich biss die Zähne zusammen. Verdammt, was hätte Rhun in so einer Situation gemacht? Er hatte diese Art an sich, Menschen – vor allem Frauen – dazu zu bringen, ihm zu helfen, selbst wenn sie nicht wollten. Ich war nicht einmal ansatzweise so gut.
„Entschuldigen Sie meinen Bruder, Miss." Eine vertraute Stimme ertönte hinter mir, und ich fühlte, wie mein Nacken steif wurde. Eine grau behandschuhte Hand griff an mir vorbei und nahm die Hand der Frau. Rhun!
„Er ist manchmal ein wenig ... aufgeregt, wenn es um historische Literatur geht." Rhuns Stimme klang butterweich, und ich beobachtete, wie er einen Kuss auf ihren Handrücken hauchte.
Die Frau errötete leicht. „Oh ..."
„Die Begeisterung für besondere Werke liegt schon lange in unserer Familie", erklärte er charmant. „Er ist extra diesen weiten Weg gereist, so aufgeregt war er, dass er nicht einmal Bescheid gesagt hat."
Rhun lächelte, doch seine Augen trafen meinen Blick mit einer eisigen Warnung. Ich schluckte. Rhun war uns also gefolgt.Die Frau schien plötzlich interessiert. „Was suchen Sie denn genau?"
Rhun drehte sich zu mir um, seine Miene scharf. „Nun, Fips, welches Werk suchen wir denn?"
Ich fühlte mich wie ein Schuljunge, der beim Abschreiben erwischt wurde. „Ähm ... na ja ... ich glaube, es ist in einer Kiste hier irgendwo", stammelte ich.
„In einer Kiste?" Die Frau runzelte die Stirn.
„Vielleicht sehen wir uns erst einmal in Ihrer überragenden Sammlung um", schlug Rhun vor, sein Lächeln blitzend. „Das gibt meinem Bruder etwas Zeit, seine Gedanken zu ordnen."
Ohne auf ihre Antwort zu warten, packte er mich am Arm und zog mich hinter das nächste Bücherregal.
„Was tust du hier?" zischte er und fixierte mich mit einem Blick, der keine Widerrede duldete.
„Ich suche ein Buch, von dem Cassy geschrieben hat." Ich hielt ihm das Notizbuch hin. „Und was tust du hier?"
Rhun hob eine Augenbraue und sah mich über den Rand des Buches hinweg an. „Dich beschützen, Bugs Bunny."
„Hä?" Ich sah ihn verwirrt an.
„Auf deiner Reise hierher habe ich zehn dieser Maskenmänner ausgeschaltet, bevor sie dir am Puschel ziehen konnten."
Mir blieb der Mund offen stehen. Ich hatte davon nichts bemerkt.
„Und was erhoffst du dir von diesem Buch?" fragte Rhun nun sanfter. „Klaus und ich finden es gut, dass du alles aufschreiben willst, was passiert ist. Aber ich schätze, du verrennst dich hier in etwas, Kleiner."
Ich ließ die Ohren hängen und sah zu Boden. „Ich weiß es doch auch nicht." Meine Stimme war leise. „Es klang nach einem Abenteuer, wie Cassy und ich es erlebt haben. Dieses Buch hat uns zusammengebracht, und ich möchte es einfach gerne haben."
Rhun legte eine Hand auf meine Schulter. „Manchmal, Fips, geht es nicht darum, was wir uns zurückholen können, sondern darum, wie wir mit dem weitermachen, was wir noch haben."
Ich nickte stumm, doch in meinem Inneren war ich nicht sicher, ob ich das akzeptieren konnte.
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Achtsam jammern mit dem Osterhasen | Eine Julien Bam FF
FanfictionKeine Panik, Leute - das hier wird kein Buch über Achtsamkeit. Ich weiß, der Titel klingt, als ob gleich Meditations-Tipps und Rezepte für Smoothies folgen würden. Keine Sorge, hab selbst keine Ahnung von dem Zeug. Aber irgendeinen Titel musste das...