[ 1 ] "Nicht so in der Stimmung dazu."

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Ich sah mich um. Auf der Bühne spielten gerade Carpark North - unsere Vorband für dieses Jahr. Sie machten wirklich gute Musik, ich war, genauso wie die anderen Jungs froh, sie als Vorband zu haben. Den anderen Jungs merkte man das während sie spielten auch immer richtig an, sie tanzen was das Zeug hält, während Carpark North auf der Bühne wahrscheinlich eingebauter Show hinlegten.
Nur mir war nicht wirklich nach tanzen zumute. Ich saß auf einer Bank und rauchte nun schon die dritte Zigarette an diesem Abend, von denen tagsüber mal ganz abgesehen. "Samu! Hör auf zu rauchen, dann stirbst du irgendwann und ich will nicht dass du stirbst!", hatte die kleine Siina einmal zu mir gesagt, als ich gerade auf den Balkon gehen wollte, um eine zu rauchen, und sich an meinem Hosenbein festgeklammert, damit ich nicht nach der Zigarettenpackung greifen konnte. Ich hatte Inne gehalten.   Solche Worte aus so einem kleinen Mund. "Hm, weißt du, das ist gar nicht so einfach. Aber für dich versuche ich es!", hatte ich ihr geantwortet, meinen Plan, eine zu rauchen verworfen und sie auf dem Arm genommen. Sie hatte glücklich gelächelt und mich umarmt. Danach hatte ich wirklich weniger geraucht, für eine Zeit, weil ich diese treuen Kinderaugen nicht hintergehen konnte. Bei jeder Zigarette habe ich noch immer ihren Blick im Kopf, wie sie mich von unten ansieht und an meinem Hosenbein zupft, als würde mich genau diese Zigarette, die ich in dem Moment hatte rauchen wollen, umbringen. Doch an diesem Abend konnte ich selbst diesen Blick ignorieren. Ich saß die ganze Halbe Stunde, die Carpark North spielten auf dieser Bank, rauchte eine Zigarette nach der anderen, ohne Pause dazwischen, und dachte nach. Eigentlich sollte ich nicht hier sein, sondern in Helsinki, bei meiner Familie.Und vor allem sollte ich bei Silja sein, die war nun ganz alleine. Gut - nicht ganz, aber doch ziemlich. Das war schon fast wichtiger als bei meiner Familie zu sein. Die kam die paar Tage auch ohne mich zurecht. Inzwischen war es schon spät und ich musste bald auf die Bühne. Schließlich saß ich immer noch im Backstage eines Konzertes meiner Band, so ein Mist auch. Schnell drückte ich meine Zigarette aus und ging mich umziehen. Dabei begegnete ich Sami, der mich sehr unsanft zur Seite zog. "Ehy, was auch immer los ist, wehe du lässt es gleich auf der Bühne raushängen." Ich lächelte ihn an. "Erstens machen mich die Menschenmassen da draußen so unglaublich glücklich, da kann ich's nicht raushängen lassen und außerdem gebe ich mir Mühe, mach dir da keine Sorgen." Er sah mich mit durchdringendem Blick an, während ich mir mein normales T-Shirt auszog und mir das schwarze Showoberteil überzog. "Bitte, echt. Ich will nicht, dass wir die Leute da draußen enttäuschen." Ich nickte. "Wird schon, keine Angst, echt." Sami ging zum Kleiderständer und nahm auch sein T-Shirt hinunter, ohne noch ein Wort zu mir zu sagen.
Ich ging, fertig umgezogen, zum Gitarrenständer, wo ich meine Gitarre nahm und auf die anderen wartete, die sich noch im Backstage verteilt herumtrieben. Die Zigarette hätte ich auch noch ausrauchen können, so lange wie ich hier nun wartete.
Endlich war es so weit und wir mussten auf die Bühne. Schnell, aber zumindest immer fröhlich wirkend, zog ich die Show durch. Auch wenn mir eigentlich überhaupt nicht nach Witzen oder ähnlichem zumute war, konnte ich beim Anblick der Massen, die nur wegen uns hier waren und uns sehen wollten nicht anders und musste breit grinsen und gut gelaunt sein, es ging nicht anders. Diese komische gemischte Stimmung erfüllte mich, sobald ich die Bühne betrat. Eigentlich war mir noch immer zum heulen zumute, als ich die Massen sah, musste ich aber beginnen zu grinsen, redete auch als hätte ich soeben im Lotto gewonnen. Eigentlich ein Glück, dass es dieses Phänomen gab. Sonst hätten wahrscheinlich an diesem Abend 10.000 Menschen von meiner Stimmung mitbekommen und ich hätte wahrscheinlich jedem einzelnen von ihnen den Abend versaut.
Nach zwei Stunden waren wir fertig mit der Show, verabschiedeten uns von dem Publikum und gingen ab. Die anderen gingen alle sofort in den Aufenthaltsraum, um zu feiern. Schließlich hatten wir soeben das letzte Konzert dieser Tour hinter uns gebracht. Das würde eine lange Nacht werden. Und dann würden wir unseren Flug morgen nicht bekommen, wir mussten schließlich noch nach Frankfurt fahren, und niemand hatte seinen Koffer gepackt. Ich wollte aber nicht noch einen Tag hier bleiben. Ich wollte nicht, nicht unter diesen Umständen. Nachdem ich im Blickdicht abgezäunten, also auch vor den  Blicken von stalkenden Fans geschützten Hinterbereich der Bühne noch einmal geraucht hatte, überwand ich mich und ging zu den anderen, die sich sicher schon wunderten, wo ich denn blieb.
Ich sah um mich. Alle feierten, waren glücklich. Von hinten wurde ich angestoßen. "Hey, komm, Tanz mit uns!" Lustlos schüttelte ich den Kopf. Ich sollte eigentlich, ich sollte aufstehen und mit Ihnen tanzen, trinken und feiern. Ich sollte glücklich sein und ausdrücken, wie dankbar ich für all das hier war. Das war ich nämlich wirklich, unvorstellbar doll, auch wenn man es jetzt gerade nicht wirklich merkte. Ich machte mir Sorgen. Sorgen um sie, die alleine bei ihr zu Hause in ihrem Zimmer saß, ohne hinaus zu können - und inzwischen auch ohne zu wollen. Ich wollte nicht hier in Deutschland feiern, während es ihr dort drüben schlecht ging. Das konnte ich beim besten Willen nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. "Hey, seit wann trinkst du denn nichts?", wurde ich erneut angesprochen. "Nicht so in der Stimmung dazu.", antwortete ich, ohne aufzuschauen. So würde das noch den ganzen Abend lang gehen. Und niemand würde nachfragen, was war. Zum Glück, dachte ich.
Nachdem ich eine Stunde lang auf einer Bank gesessen hatte, während alle um mich herum gefeiert hatten, stand ich auf und holte mir einen Jägermeister. Wenn ich ihn schon nicht trank, um zu feiern, dann wenigstens, um meine Sorgen zu ertränken. So etwas klang zwar immer seltsam, aber es funktionierte wirklich ausgezeichnet. Nachdem ich mir den dritten Jägermeister genommen hatte, begann ich auch zumindest mit den Menschen zu reden, wenn ich auch nicht so feierte, wie ich es sonst immer tat.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 26, 2015 ⏰

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Das Leben ist hart, aber unfairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt