Marvin, zwei Jahre zuvor, 2072
In Stockwerk 23, Zimmer 23-34 würden sie also über seine Zukunft entscheiden.
Sorgfältig hatte Marvin das Für und Wider abgewogen, sich den Pranken eines mächtigen Konzerns überlassen. Erst die Vorstellung, es ginge um einen guten Freund statt um sich selbst, hatte seine Gedanken geklärt und ihn zu einer Entscheidung gebracht.Besser eine kurze Lebensspanne, erfüllend und sorgenfrei, statt eine von zermürbenden Überlebenskämpfen bestimmte, dafür zwanghaft verlängerte.
Trotz allem breitete sich ein mulmiges Gefühl in seinem Magen aus.
Marvin wandte sich nach rechts und erschrak. Sein eigenes Spiegelbild starrte ihm ausdruckslos entgegen. Der fahle Hautton ließ ihn kränklich und müde wirken. Die ersten grau schimmernden Strähnen glichen gefühlt einer übermäßig laut tickenden Uhr, die gnadenlos an die eigene Vergänglichkeit erinnerte. Entweder hatten sich erste Fältchen an den Augen gebildet oder waren seiner Wahrnehmung bisher entglitten. Wenn die Erschöpfung ihn weiterhin derart rasant zeichnete, sähe er in Kürze aus wie ein zerknittertes Blatt Papier. Trüge sozusagen die Landkarte seines beschissenen Lebens im Gesicht spazieren. Ein humorloses Lachen entwich seiner Kehle.
Ding.
»Es hat eine Verzögerung gegeben. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten. Ihr Lifecoach ist in zwei Minuten für Sie da. Möchten Sie einen Personal Healthshot, um die Wartezeit zu überbrücken?«
Er seufzte. Lieber hätte er einen Whiskey getrunken, um seine Nerven zu beruhigen. »Nein, danke«, lehnte er ab. Andererseits ... »Ach, was solls. Ich nehme einen.«
»In Ordnung. Der Abruf Ihrer Gesundheitsdaten erfolgt. Zubereitung startet. Bitte wählen Sie eine Geschmacksrichtung.«
Ein Hologramm mit einer überfordernd langen Liste öffnete sich eine Armlänge entfernt und Marvin entschied sich für die erstbeste Sorte, die ihm ins Auge fiel.
»Schokolade.«
»Gern.«
Es klickte, ehe sich ein zuvor unsichtbares Fach gegenüber dem Spiegel öffnete. Skeptisch entnahm er das für ihn persönlich abgestimmte Vitamin- und Nährstoffgetränk, nippte und nickte anerkennend, obwohl es niemand sah.
Unglaublich, was für die Mitarbeiter dieses Unternehmens als normal gelten musste. Möglicherweise auch bald für ihn. Eins stand außer Frage: Ein Dasein als Attendee würde vieles ermöglichen.
Schlagartig schossen ihm Bilder in den Kopf. Charlie auf dem Dach, in seine Arme und eine Decke gehüllt, während die kühle Luft einer klaren Nacht zu ihnen durchzudringen versuchte und kläglich scheiterte.
Bilder der einen Sache, die kein Programm, kein Mensch und vermutlich auch kein Wunder je ermöglichen könnte.
Marvin schluckte schwer. Nichts könnte sie ersetzen, niemals. Seine Beine schienen plötzlich aus Gummi zu bestehen.
»Sitzgelegenheit«, bat er.
In seinem Wohnviertel, einem der typischen Slums Berlins, existierte nichts, das diesem Luxus nahekam. Marvin besaß Mitleid erregend wenig und doch mehr, als dem Großteil der Slummer, wie man sie nannte, üblicherweise zur Verfügung stand.
»Gern«, antwortete die freundliche Computerstimme und im selben Moment schob sich eine Bank aus der Fahrstuhlwand. Nachdem Marvin sich gesetzt hatte, durchflutete ihn eine Welle der Enttäuschung. In seiner Vorstellung wischte Luxus Sorgen weg. Nicht alle, nicht immer und nicht vollständig, aber zumindest schmerzlindernd hatte er es sich vorgestellt – und wäre es nur für den Bruchteil einer Sekunde gewesen. Doch Marvin fühlte nichts. Nichts abseits der gewohnten Leere, die hin und wieder einen Teil der darunter liegenden Trümmer offenbarte.
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Better Life - Ausgelöscht (Leseprobe)
Science FictionZoe entwickelt ein Programm, das Erinnerungen löscht und Persönlichkeiten neu erschaffen kann. Sie beginnt für Better Life zu arbeiten, die mit ihrer Erfindung traumatisierten Menschen helfen wollen. Zoe beschleicht schnell der Verdacht, dass etwas...