Kapitel 5

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Ich schaffe das nicht! Wie soll ich meine Kräfte vor Anna geheimhalten, wenn sie mich immer mehr dazu drängt, mit ihr zu reden? Was, wenn ich ihr wieder weh tue? Ich habe Angst! Vater kann mir auch nicht mehr helfen, denn meine Kräfte werden immer stärker und ich habe Angst, ihn zu verletzen. Wegen mir mussten sie fast die ganze Dienerschaft entlassen und das Volk aussperren. Und Anna ist ganz allein mit unseren Eltern. Ich bin ein Monster!
Weinend lehnte Elsa an ihrer Zimmertür. Sie zitterte vor Verzweiflung und aus Angst vor sich selbst. Zehn Jahre musste sie nun schon ihre außergewöhnlichen Kräfte vor dem ganzen Königreich verstecken. Ihre Handschuhe halfen ihr, sie vor dem Personal zu verbergen und Anna hatte es seit kurzem aufgegeben, sie zu fragen, ob sie etwas zusammen unternehmen wollen, dabei hatte sie sie doch immer so dazu drängen wollen.
Ich habe sie auf ganzer Linie enttäuscht.
Elsa senkte ihren Kopf so, dass sie ihn auf ihren herangezogenen Knien abstützen konnte, und weinte erneut.
Nach einer weiteren Stunde hob sie ihren Kopf wieder. Sie hatte die letzten Jahre so viele Tränen verloren, dass sie nicht mehr weinen konnte. Von sich selbst in die Enge gedrängt und eingesperrt, starrte die aus dem Fenster.
Da klopfte es an der Tür.
Erschrocken sprang sie auf.
"Elsa?", fragte ihr Vater, "Dürfen wir eintreten?"
"V-Vater... Wenn ihr es wünscht...", zögert Elsa.
Die Tür wurde geöffnet und ihre Eltern betraten das Zimmer, schlossen die Tür hinter sich und widmeten sich ihrer Tochter:
"Wir sind hier, um dir zu sagen, dass wir zur Hochzeit deiner Cousine nach Korona eingeladen wurden.", begann die Königin zu sprechen.
Elsa blickte sie erstaunt an. "I-Ihr fahrt weg?"
"Ja. In einer Woche.", antwortete Adgar.
"U-Und Anna lasst ihr bei mir?"
Angst spiegelte sich in Elsas Augen. Jetzt war die Gefahr noch größer, dass ihre Schwester von ihrer Kraft Wind bekam.
"Ja."
"I-Ich... D-Das geht nicht! Sie wird es erfahren! Ohne euch kann ich das nicht vor ihr geheimhalten!", stammelte sie.
"Du schaffst das! Glaube an dich und nichts kann dir geschehen.", redete Idun ihr gut zu.
"Und denk immer daran: Lass sie nicht rein, lass sie nicht seh'n.", ergänzte Adgar.
Elsa nickte und senkte leicht den Kopf. Bevor der König und die Königin das Zimmer ihrer Tochter verließen, klopfte der König ihr nochmal aufmunternd auf die Schultern.
Sie war wieder allein und das Eis in ihr gewann die Oberhand.

"Nein, Elsa. Lass das nicht zu! Bekämpfe deine Angst!", sagte er zu ihr.
Warum redest du eigentlich mit ihr, Jack? Sie kann dich eh nicht hören und das darf sie auch nicht. Jedenfalls nicht jetzt.
Da schaute Elsa plötzlich auf. Verwirrt suchte sie nach jemandem, zu dem die Stimme gehören könnte.
Verdammt! Sie hat mich gehört.
Schnell flog Jack auf das Dach über dem Fenster.
Jemand hatte ihr doch zugeflüstert, sie solle ihre Angst bekämpfen! Wo ist derjenige? Elsa stand auf und lief suchend zu dem offenen Fenster, aber da war niemand zu sehen.
Aber ich habe das doch ganz deutlich gehört! Kann ich mich so getäuscht haben? Vielleicht hat mir mein Kopf einen Streich gespielt...
Enttäuscht verließ sie den Fensterplatz, setzte sich auf ihr Bett und ließ den Kopf hängen. Jack lugte kopfüber zu ihr ins Zimmer.
Das geht jetzt schon zehn Jahre so. Ich will nicht, dass sie so traurig aussieht! Ich hätte mich ja gern gezeigt und sie getröstet, aber ich darf nicht und das hasse ich!
Wütend schlug er mit seiner Hand auf die Dachkante. Dabei bildeten sich am oberen Teil des Fensters hübsch verschnirkelte Eisblumen.
Erschrocken von dem Knall hörte Elsa auf, in die Leere zu starren. Mit großen Augen fixierte sie die Eisblumen an und musterte dann ihre Hände. Angst füllte ihre Augen.
Ich habe es nicht unter Kontrolle! Ich bin ein Monster!
Als Jack das sah, rief er ihr zu: "Nein, Elsa. Das warst nicht du! Das war ich, ich ganz allein! Alles ist gut."
Ihr Blick schnellte wieder zum Fenster. Erneut musterte sie die Eisblumen. Sie sind wunderschön.
"Wer bist du und wo bist du?", flüsterte sie.
Verdammt! Sie kann mich ja wirklich hören!
Zu gern hätte er ihr geantwortet, dass sie nicht allein war und dass er ihr helfen kann, doch er stieß sich stattdessen nur vom Dach ab und flog zu North.

Die verlorene HüterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt