Mira

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6. Juni 2014,

Abend,

Unsere Welt,

Mira

Mit einem leisen Klicken schloss sich die Haustür hinter mir. Ich drehte den Schlüssel zweimal im Schloss und steckte ihn in die Hosentasche meiner Jeans. Dann hob ich meinen Bogen, der in einer länglichen Ledertasche steckte, vom Boden auf und hängte ihn mir über die Schulter.

Ich drehte der Haustür den Rücken zu, ließ den Blick der Straße entlang wandern, holte tief Luft und lief los. Meine Füße hämmerten auf den Asphalt und schon nach Sekunden hatte ich meinen Laufrhythmus gefunden.

Ich lief an mehreren Reihenhäusern vorbei, die, abgesehen von verschiedenfarbigen Fensterläden, beinahe gleich aussahen. Nachdem ich das Letzte passiert hatte, bog ich nach links ab und fand mich auf einem schmalen Feldweg wieder. Auf beiden Seiten des Wegs reckten sich große Maispflanzen dem Himmel entgegen.

Die tief stehende Sonne schickte ihre letzten goldenen Strahlen über die Felder und warf lange, dunkle Schatten. Schon begannen die Farben zu verwischen um einer Vielzahl von Grautönen Platz zu machen. Der rissige Asphalt wurde von brauner Erde und vereinzelten Grasflecken abgelöst. Ich lief schneller, den schnurgeraden Feldweg entlang auf den schattigen Wald zu.

Der Wind ließ meine langen, braunen Haare flattern und der Reißverschluss meiner Jacke klirrte bei jedem Schritt leise. Abgesehen vom Zwitschern einiger Vögel und dem Rauschen des Windes in den Maisfeldern war alles still. Ich spürte, wie ein Lachen, klar und hell, in mir aufstieg.

Diese Stille, der gleichmäßige Rhythmus meiner Schritte auf dem weichen Erdboden gaben mir das Gefühl zu fliegen. In diesem Moment war es so einfach zu vergessen. Die schlechten Noten in der Schule wurden plötzlich unwichtig und die einsamen Mittagspausen nicht mehr so schlimm.

Der Weg machte eine leichte Biegung nach rechts und ich tauchte ein, in den dunklen Schatten des abendlichen Waldes. Die Luft hier war merklich kühler als zwischen den Feldern und das Licht malte nur noch vereinzelt helle Flecken auf den Waldboden.

Der Weg wurde immer schmaler und schlängelte sich, eingerahmt von großen Farnpflanzen, zwischen den dunklen Baumstämmen hindurch. Ich wurde etwas langsamer und sprang flink über Steine und Wurzeln. Die Farben des Waldes waren nun fast gänzlich verschwunden und die Schatten wurden immer tiefer. Ich liebte diese Zeit nach Sonnenuntergang.

Der fließende Übergang zwischen Tag und Nacht, wo alles möglich schien und die Welt sich in verzauberte Schatten hüllte. Diese Stille, die sich dann über den Wald senkte, die die Fantasie auf nachtschwarzen Flügeln zum Himmel fliegen ließ und alle Sorgen von einem nahm.

Als ich diesen Weg das erste Mal gegangen war, waren meine Schritte vorsichtig gewesen. Ich war bei jedem Laut zusammengezuckt und hatte jeden Schatten aufs Genauste gemustert. Das war vor zwei Jahren gewesen.

„Kurz nach Claires Tod!", flüsterte eine leise Stimme in meinem Kopf.

Das war ein verbotener Gedanke! Mein Atem stockte und ich wäre beinahe gestolpert. Ich blieb stehen und lehnte mich mit der Schulter an den Stamm einer alten Eiche. Claires Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. Ihre Augen funkelten und das Lächeln in ihren Mundwinkeln schien mich zu verspotten. Die kurzen, brauen Haare standen so strubbelig von ihrem Kopf ab, als wollten sie jede Existenz einer Bürste leugnen. Ich schüttelte den Kopf um Claires Bild aus meinen Gedanken verschwinden zu lassen.

Ich legte die Wange an den Stamm der Eiche und genoss den Halt, den der Baum mir gab, während ich verzweifelt um die Herrschaft über meine Gedanken rang. Die Rinde war kühl und noch ein wenig feucht vom Regenschauer der letzten Nacht. Ein Knacken riss mich aus meiner Erstarrung.

Prophecy - Die Vierte Tochter des WindesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt