Kapitel 1: Matteo

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Er atmete tief ein.

Sein Brustkorb hob und senkte sich bebend, während der Sauerstoff seine Lunge durchflutete. Einige Meter unter seinen dunkelgrünen Schuhen, sonderten die zarten Wellen einen feuchten, miefigen Geruch ab, der in seiner Nase zu kribbeln begann, wie tausend kleine Ameisenfüße.

Rot gepolsterte Gondeln glitten schwerelos über das in der Nacht dunkelblau schimmernde Wasser. Die Lichter der Boote tanzten in der Ferne wie ein wirbelnder Schwarm aufgescheuchter Glühwürmchen. Seine Ohren lauschten dem betörenden Klang, den die Sterne ihm zuflüsterten. Ihre heiseren Stimmen waren kaum mehr als ein Wispern.

Gestaltlose Geister, die um ihn herumschwebten, ohne ihn zu berühren und ihn dennoch auf Schritt und Tritt verfolgten. Durch den leeren Rahmen, über den sein gut gebauter Körper gebeugt war, fuhr ein milder Windstoß. Er spürte ihn durch seine kurzen Haare streifen, fühlte, wie er über seinen Nacken und unter sein T-Shirt kroch. Unwillkürlich durchfuhr ihn ein eiskalter Schauer.

Der Wind ebbte ab und verfiel wieder in silbernes Schweigen, während das Gold der Lichter am Horizont in den Schaumkronen versank.

Matteo schloss für eine endlos lange Minute die Augen und sog die betörende Atmosphäre der Umgebung in sich auf. Er liebte seine Stadt. Die verwinkelten Gassen, die er auswendig kannte, wie ein Gesicht, die Mauern, an denen Efeu und Weintrauben wuchsen, sich ineinander ranken, wie in einem nicht enden wollenden Labyrinth. Was andere als Gestank des Wassers und Tosen der Wellen wahrnahmen, bedeutete für ihn die Melodie seiner Seele. Maskenläden befanden sich an jeder Straßenecke, Restaurants stapelten sich übereinander.

Tief in der Stadt gelegen, nicht weit von seinem jetzigen Standort entfernt, befand sich, in einer schmalen Gasse, das Haus. Dieser Hof, der seinen gesamten Lebensmittelpunkt verkörperte, die Menschen beherbergte, die er liebte. Das Geheimnis verbarg, das sich hinter den runden Säulen in den Räumen versteckte und nur sie beim Namen kannten. Das sie von innen heraus zerfraß, wie ein Wurm, ihre Eingeweide zersplitterte und das Blut in ihren Adern gefrieren ließ. Seine langen, dünnen Finger fuhren nachdenklich über die weiß bestrichene Oberfläche der Brücke. Wie lange würden sie noch warten müssen? Wie lange würde es noch dauern, bis sein bester Freund und die Frau, die er liebte, an dieser Last zerbrachen? Ihr Schutzwall aus Hoffnung und Verdrängung, den sie sich lückenlos aus ihren verstorbenen Träumen und ihrem Schmerz erbaut hatten, würde dem drohenden Unheil nicht ewig standhalten. Irgendwann würden sie daran zerbrechen und in tausend Stücke zerfallen - in ein endloses Meer aus Scherben. Die Sehnen an seinen Oberarmen spannten sich, während er seine Handballen auf den leeren Rahmen stützte und bedächtig zu Boden schaute.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 31, 2015 ⏰

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