Seine blauen Augen blitzen kurz auf, als er sich dem Ende des Grabens nähert. Er weiß, dass diese seltsame Anlage aus Dreck und Matsch wenigstens ein klein wenig Schutz bietet, aber dort draußen erwarten ihn nichts als ödes Niemandsland und der Tod. Erfährt sich mit den Händen nervös über das ausgezehrte Gesicht.Seine Hände sind Klavierspielerhände, Künstlerhände. Begeistert war er, als er zur Front abmarschieren durfte. Dort wo er vorher war,kannte er nichts als Armut und die Ungewissheit wie er den nächsten Winter überstehen sollte. Die Gräben, der Schlamm, die Kameraden,all das Blut und all das Leid, das ist jetzt sein Zuhause. Mit einem letzten entschlossenen Handgriff rückt er seine Pickelhaube zurecht und klettert über die rutschige Kante hinauf ins Ungewisse. Ob er die nächsten Stunden überleben wird, kann er nicht wissen, aber erweiß, dass er diese Nachricht zu dem anderen Unterstand bringen muss. Das ist seine Pflicht und wenn ihm eines im Leben heilig ist,dann ist es diese. Er liebt sein Vaterland, aber er ist nicht wie die anderen. Die anderen beteuern sie wären frohen Herzens für das Reich an die Front gezogen, er aber meint es ernst. Wenn er sie im Graben hocken sieht, zitternd und jammernd, wird ihm fast übel –so würden sie diesen Krieg niemals gewinnen. Er aber ist entschlossen alles zu geben, und wenn es sein junges Leben ist.
Kaum hat er seinen dürren Körper aus dem schützenden Graben gehievt, sausen ihm surrend die ersten Kugeln um die Ohren. Es sind vielleicht zweihundert Meter, die er überwinden muss, bis ihm ein kleiner Krater und ein paar Büsche Schutz vor den tödlichen Geschossen bieten können. Bis dorthin erwartet ihn nichts als totes Land, übersät mit Kratern und verbrannter Erde. Er ärgert sich über die Franzmänner, die ihm und seinen Kameraden schon so dichtauf die Fersen gerückt sind, dass er erkennen kann, wie sie dort drüben im anderen Graben hektisch auf und ab rennen. Es nützt nichts, er läuft so schnell ihn seine Beine noch tragen können. Der Hunger und die Erschöpfung zerren wie wilde Tiere an seinem Körper,aber er wird nicht aufgeben, er gibt niemals auf. Eine Kugel schlägt direkt vor seinen Füßen ein und verfehlt ihn um Haaresbreite. Eine zweite Kugel zersplittert das Holz des Baumes knapp neben seinem Kopf. Mit einem letzten Satz springt er in den schützenden Krater,der von angesengten Büschen umgeben ist. Er lebt, wie durch ein Wunder.
Irgendwo dort hinten am Horizont wartet der schützende,verbündete Graben der anderen Kompanie. Er weiß nicht, wie viele Meter er noch laufen muss. Vielleicht sind es fünfhundert,vielleicht sind es aber auch eintausend. Es gibt keinen anderen Weg,nur nach vorne und immer mit dem Tod als Hintermann. Ein unschaffbares Vorhaben. Aber der Hauptmann hat ihn nicht umsonst für diesen Gang ausgewählt. Er ist der Mann, der auch das Unmögliche überwinden wird, das werden sie schon sehen. Sein ganzer Körper bebt vor Anspannung, als er sich vorsichtig zum Rand des Kraters schiebt, um einen Blick auf die feindlichen Linien zu erhaschen. Es ist alles still und das gefällt ihm nicht. Sie wissen, dass er dort wie ein feiges Karnickel hinter den Büschen kauert und sie werden nicht einen Augenblick zögern, auf ihn zu schießen, wenn er den Krater verlässt. Er hat sein Gewehr geschultert, aber was nützt es ihm? Dort drüben hockt eine ganze Kompanie, verteilt auf ein riesiges Gewirr aus Gräben, und er ist ganz allein. Das einzige was er noch hat, ist sein Wille, und den wird er niemals verlieren. Errappelt sich auf. Innerhalb dem Bruchteil einer Sekunde hat er sich wieder in Bewegung gesetzt und rennt, und rennt, und rennt. Wiederkommen die Kugeln mit tödlicher Geschwindigkeit angerast, wieder schafft er es, ihnen wie durch ein Wunder zu entkommen. Er schlägt Haken, springt über ausgebrannte Baumstämme, weicht kleineren Kratern aus. Der rettende Horizont kommt näher, immer näher und immer noch rennt er, als gäbe es keinen Morgen mehr. Ja, er kann bereits sogar die Pickelhauben seiner Kameraden erkennen, die am äußersten Ende des herbeigesehnten Grabens ihre Wache schieben.
Dann beherrscht ein gleißendes Licht seine Welt. Ein ohrenbetäubender Knall, tanzende Sterne vor seinen Augen und einbohrender Schmerz in seinem ganzen Körper. Er liegt auf dem verbrannten Boden, dort wo die Granatsplitter seine Uniform durchdrungen haben, haben sie Kratzer und Wunden hinterlassen.Besonders sein Bein blutet und als er sich versucht zu bewegen,durchläuft ihn ein Schauer aus unbeschreiblichen Schmerzen. Erkämpft gegen die Ohnmacht, er darf jetzt nicht aufgeben. Von irgendwo her ertönen Schreie, aber er weiß nicht mehr, ob es die Franzmänner sind oder seine Kameraden. Er weiß nur noch, dass er die Augen schließen muss. Schwärze, nichts als stille Schwärze umgibt ihn. Irgendetwas, irgendjemand packt ihn. Ist es der Tod, der ihn holen kommt? Nein, denkt er sich, der Tod würde ihm nicht auf die Schulter klopfen und erregt ausrufen: Wir haben dich, Kamerad,wir haben dich! Langsam öffnet er die Augen und blickt in zwei hagere Gesichter, die von schief sitzenden Pickelhauben gekrönt werden. Der Schmerz will ihm erneut die Herrschaft nehmen, aber er bleibt standhaft. Er ist der Mann, der das Unmögliche geschafft hat– er lebt.
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Der unbekannte Soldat
Short StoryEine sehr kurze Kurzgeschichte über die Augenblicke des Lebens eines Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Sein Name ist unbekannt, aber sein Schicksal ist es nicht. Die Geschichte war Teil eines Projekts für die Uni.