Mara

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Mara

Als Teri am nächsten Abend aufwacht, fühlt er sich immer noch satt. Er hat gestern wohl wirklich zu viele Insekten verschlungen. Deshalb hat er nicht besonders eilig, seine Spalte zu verlassen. Schläfrig blinzelt er zu Maras Netz hinunter. Die Spinne hat es weiter ausgebaut und sitzt nun stolz in der Mitte. Vielleicht ist sie ja heute etwas besser aufgelegt?
«Guten Abend, Mara. Das ist ein besonders schönes Netz. Hast du damit schon viel gefangen?»
Die Spinne dreht sich so, dass sie Teri ansehen kann. Sie scheint heute wirklich besser gelaunt zu sein. Auf jeden Fall gibt sie beinahe freundlich Antwort.
«Sieh an, der junge Teri ist auch wieder wach. Ich habe heute mein Netz mit extra dicken Fäden verstärkt, damit es nicht so schnell reißt, wenn du daran vorbeiflatterst.»
Teri zeigt sich gebührend beeindruckt.
«Das ist bestimmt eine gute Idee. Ich gebe mir auch Mühe, dein Netz nicht kaputt zu machen!»
«Das will ich hoffen. Das wäre ja noch besser, den ganzen schönen Sommertag verschlafen und am Abend aus dem Bett kriechen, um das Tageswerk anderer Leute zu zerstören.»
Teri ist etwas verwirrt. Was sind ein Sommertag und ein Tageswerk? Zum Glück ist Mara heute ungewöhnlich gesprächig. Das muss er ausnutzen. Er schlüpft aus seiner Spalte und hängt sich bequem an einen Dachbalken, bevor er eine Frage stellt.
«Was meinst du mit einem schönen Sommertag?»
«So einen Tag wie heute einer war, wenn die Sonne durch alle Ritzen und Spalten scheint und die Staubkörner in ihren Lichtstrahlen tanzen. Wenn es von draußen nach frischem Heu riecht und man die Bienen summen hört. Ein wunderschöner farbenfroher Sommertag, eben.»
Teri versteht kein Wort. Aber seine Neugier ist geweckt. Deshalb löchert er nun Mara mit Fragen.
«Was sind Bienen?»
«Bienen sind schwarz und gelb gestreifte Insekten, die Blütenstaub und Nektar sammeln.»
«Was machen die Bienen mit dem Blütenstaub und dem Nektar?»
«aus dem Nektar machen sie Honig. Gleichzeitig bestäuben sie auch noch die Blumen.»
«Was sind Blumen?»
«Blumen sind die farbigen Blüten der Pflanzen, die sich öffnen, wenn die Sonne scheint.»
«Und was ist die Sonne?»
«Die Sonne, nun, die Sonne ist das helle Licht, das tagsüber über den Himmel zieht und seine warmen Strahlen bis hierher auf den Dachboden schickt.»
Teri überlegt einen Moment. Was der Himmel ist, weiß er auch. Aber vielleicht kann ihm Mara eine Frage beantworten, die ihn schon lange beschäftigt.
«Weißt du, weshalb der Himmel die Farbe ändert? Am Abend ist er blau oder grau oder rot. Dann wird er ganz schwarz und manchmal ist er gesprenkelt mit vielen leuchtenden Punkten.»
«Die leuchtenden Punkte heißen Sterne. Am Tag sind sie nicht zu erkennen, weil die Sonne zu hell scheint. Aber du bist eine Fledermaus, du lebst in der Nacht. Deshalb ist es kein Wunder, dass du von den Dingen des Tages keine Ahnung hast. Das lässt sich nun einmal nicht ändern.»
Teri lässt enttäuscht die Flügelspitzen hängen. Was Mara vom Tag erzählt, klingt aufregend. Gerne möchte er noch viel mehr erfahren, über die Farben, die Blumen und die Sonne.
«Weshalb kann eine Fledermaus nicht am Tag leben?»
«Weil eine Fledermaus eben eine Fledermaus ist und in der Nacht lebt. Außerdem habe ich wirklich Besseres zu tun, als deine neugierigen Fragen zu beantworten.»
«Aber du weißt so viel, Mara. Und ich möchte so gern die Sonne und die Blumen und Bienen sehen. Was muss ich tun, damit ich den Tag kennenlernen kann?»
Mara brummt etwas Unverständliches vor sich hin und unternimmt gemächlich einen Kontrollgang über ihr Netz. Gründlich inspiziert sie jedes Detail. Teri fürchtet schon, dass sie ihn heute nicht mehr beachten wird. Da platziert die Spinne sich wieder in die Mitte ihres Netzes und ordnet sorgfältig ihre acht langen Beine. Dann räuspert sie sich mit wichtiger Miene.
«Nun, da du ein Nachttier bist, könntest du vielleicht den alten Hibu besuchen. Der ist auch in der Nacht wach. Er ist ein Waldkauz und lebt in der großen Tanne gleich hinter dem Kaninchenstall. Man sagt, dass er alles weiß. Vielleicht kann er deine Fragen beantworten.»
«Danke, Mara, ich gehe ihn sofort suchen! Gute Nacht!»
Blitzschnell spannt Teri seine Flügel und lässt sich im Sturzflug fallen. Er will noch in dieser Nacht mit dem weisen Hibu sprechen. Zum Glück beschädigt er in seiner Ungeduld Maras Netz nicht.

Teri und SivaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt