Kapitel 19

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Sie atmete die kühle Nachtluft gierig ein, als verspräche sie ihr, dass alle Gedanken, Fragen und Zweifel von ihr abfallen würden.
Nun wusste Elsa zwar, was der Grund für ihre Anwesenheit hier am Nordpol war, doch das warf nur noch mehr Fragen auf. Die Hüter glaubten, sie sei die mächtigste aller Hüter, doch war sie sich selbst da nicht sicher. Wie konnte sich die junge Frau überhaupt anmaßen, sich als solche zu sehen? War sie nicht gar, in ihrem Inneren, die Schwächste?
Elsa starrte hinauf zum schwarzen Himmel.
Dort war er, der volle, gleißend helle Mond. North hatte ihr erzählt, dass dort der Mann im Mond lebte. Er war es, der all die Hüter erwählt hatte. So einst auch Elaine, die erste Trägerin ihrer unsterblichen Seele. Sie war der Grund, warum Elsa so anders war, warum sie magische Kräfte besaß...
Der erste Tag nach ihrer Anreise war schnell vergangen und trotzdem fühlte sie sich so leer. Die junge Königin hatte gehofft, dass sie ihr Leben in Arendelle schnell vergessen würde, doch als sie erfuhr, dass sie seit ihrem 21. Geburtstag unsterblich war, ließen sie die Gedanken an ihre Schwester nicht mehr los. Sie realisierte in diesem Moment, was dies zu bedeuten hatte.
Anna würde altern, ihr Körper zerfallen, bis sie starb, und Elsa würde dabei zusehen müssen...
Erneut fragte sie sich, warum das Leben so grausam zu ihr war, warum sie ihre Schwester sterben sehen musste.
Eigentlich sollte Elsa doch froh sein, einen unsterblichen Körper zu besitzen, oder nicht? Musste glücklich darüber sein, dass sie endlich so sein konnte, wie sie wirklich ist, und ihre Kräfte zeigen durfte. Aber das war Elsa nicht. Ihr Herz fühlte sich so schwer an, wenn sie an ihre Familie dachte.
Anna... Warum tue ich dir das schon wieder an? Hätte ich doch nie existiert. Dann hättest du jetzt keinen Kummer...
Die junge Frau begann zu weinen. Sie bedeckte ihre tränengefluteten Augen mit ihren zarten, beinahe zerbrechlich wirkenden, Händen und ließ ihrem Kummer freien Lauf. Sie fühlte sich so allein. Nur der Mond schien, mit seinem silbernen Licht, auf die Hüter herab und ihr war, als versuchte er ihr Trost zu spenden.
Gab es wirklich diesen Mann im Mond, von dem ihr der dickbäuchige Hüter erzählt hatte?
Der glänzend helle Ball, der jeden Abend am Himmel hing, hatte Elsa zwar schon immer fasziniert, doch hatte sie nie zuvor dieses Gefühl der Sicherheit in seiner Gegenwart verspürt.
Heute Abend war es anders. Mit seinem sanften Schimmer schaffte er es, ihre Tränen zu trocknen, doch ihre Gedanken flossen weiter. Strömten um die letzten Jahre, die nun im einem neuen Licht erschienen. Viel harmloser, viel milder...
Mit einem glasigen Blick in ihren Augen, starrte die Eiskönigin zu ihm hinauf. In diesem Moment fühlte sie sich wieder wie ein kleines Mädchen. Schwach und zerbrechlich, alleingelassen und hilflos...
Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, doch sie schafften es nicht, Elsas Augen zu verlassen. Alles verschwamm um sie herum und als die junge Königin erneut anfing, leise zu schluchzten, spürte sie, wie sich eine warme Hand auf ihre linke Schulter legte.
Erschrocken zuckte Elsa unter der Berührung zusammen.
Wer mochte das sein? Sie hatte doch darauf geachtet, dass ihr niemand gefolgt war...
Sicher, sie hatte die Aufgabe, den Hütern zu helfen, alle Kinder zu beschützen, doch das Einzige, was die Königin im Moment wollte, war, allein zu sein. Niemand hatte sie stören sollen und nun stand jemand hinter ihr, mit einer Hand auf ihrer Schulter.
Elsa versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken und drehte sich langsam, beinahe in Zeitlupe, um.
Sie blickte in die sanften Züge des jungen Hüters, der versuchte, sie mit einem aufgelegten Lächeln zu eben einem solchen zu animieren. Doch kaum hatte Jack Frost gesehen, wie die Augen der schönen Frau vor Schmerz und Trauer schwach flackerten, verschwand jede Fröhlichkeit von seinen Gesichtszügen und machten tiefster Besorgnis platz.
Er ging, verfolgt von Elsas Blicken, um den Baumstamm, auf welchem die Hüterin saß, herum und setzte sich neben sie. Was war mit ihr geschehen? So schwach hatte er sie die letzten Tage nie erlebt, so zerbrechlich...
"Kann...", begann er in einem gefühlvollen Tonfall, "Kann ich dir irgendwie helfen?"
Jack wollte nicht, dass es Elsa derart schlecht ging. Sie sollte glücklich sein, sollte sich frei fühlen. Stattdessen saß sie nun hier neben ihm und versuchte verzweifelt, ihre salzigen Tränen zu verstecken.
"Schick mich zurück, Jack.", flüsterte sie kaum hörbar.
Noch immer starrte die Eiskönigin, beinahe ausdruckslos, zu Boden. Sie traute sich einfach nicht, ihren Begleiter anzusehen, zu groß war die Angst davor, er könne direkt in ihr Inneres sehen, könnte erkennen, wie tief ihr Schmerz saß.
"Elsa. Du weißt, dass das nicht geht. Ich würde dich gern gehen lassen, sehe ich doch, wie weh dir das alles hier tut. Aber ich darf nicht.", erklärte Jack ihr.
Dabei hoffte er, dass sie junge Frau Verständnis dafür haben würde, doch das konnte er natürlich nicht erwarten. Alles hier, jeder Zweig und Strauch, jede Person, sogar jeder Eiskristall war ihr fremd. Es war verständlich, dass sie Angst hatte. Noch dazu würde Elsa ihre Familie nie wiedersehen dürfen...
Der Hüter hätte erwartet, dass sie ihn nun traurig oder wütend hier sitzenlassen würde, doch stattdessen hob Elsa ihren Kopf und schaute ihn mit leeren, glasigen Augen an. Es lag soviel Hilflosigkeit in ihnen, soviel Zerbrechlichkeit...
Mit bebenden Lippen hauchte die Königin: "Ich weiß, Jack. Es... Es tut mir leid." Bei den letzten Worten rannen ihr einzelne Tränen über die bleichen Wangen.
Mit aller Kraft versuchte sie, die salzige Flüssigkeit zurück zu halten, doch einzelne, kleine Tropfen schafften es dennoch, ihrem Auge zu entfliehen.
Als Jack diese bemerkte, umschloss er mit seinen Händen ihre zarten Finger und redete vorsichtig auf sie ein, in der Angst, sie würde zerbrechen, wenn er dies nicht tat: "Nein. Nichts muss dir leid tun. Wir sind es, die uns entschuldigen müssen. Wir haben dir deine Familie genommen und dich hierher gebracht. Ich war es..."
Nach diesen Worten war Elsa endgültig gebrochen. Sie schaffte es nicht mehr, ihre Tränen zurückzuhalten und ließ ihnen daher freien Lauf. Einige Schluchzter lösten sich von ihren Lippen. Es war ihr nun egal, was Jack von ihr dachte und was die anderen Hüter von ihr denken würden, wenn er ihnen davon erzählte. Sie kannte nur noch diesen Schmerz...
Doch statt vorwurfsvollen Blicken, fühlte Elsa, wie sich zwei starke Arme um sie legten, zu sich zogen und sie fest an sich drückten. Seine Wärme berührte ihre zitternde Haut.
Den Kopf an die Brust des weißhaarigen Hüters gelehnt, schluchzte Elsa hemmungslos weiter. Der Stoff vor ihr wurde von Tränen durchtränkt, und doch wich Jack nicht von ihr.
Sanft fuhren seine Hände ihren Rücken auf und ab.
"Alles gut... Schhhh."
Elsa spürte sein Verständnis, seine innere Nähe, seine Wärme. Er gab ihr Mut und spendete Trost, tat genau das, was sie in diesem Moment brauchte. Er gab ihr ein wenig Halt, an den sich die Hüterin klammerte, um nicht wieder in einem Meer aus Trauer, Einsamkeit und Furcht zu versinken...
Nachdem Elsas herzzerreißendes Wimmern immer leiser wurde und sie nicht mehr am ganzen Leib bebte, wagte es Jack, sich vorsichtig, wenn auch nur ein kleines Stück, von ihr zu entfernen. Behutsam löste er seine Arme und drückte Elsa sanft von sich weg, um ihr in die Augen sehen zu können.
Einzelne Tränen klebten noch in ihren Augenwinkeln, doch ansonsten waren keine weiteren auszumachen. Die junge Frau schien sich allmählich zu beruhigen. In ihrem Blick, der nun Jack's traf, war noch deutlich der Schmerz zu sehen, der sie durchflutete, doch auch Melancholie spiegelte sich in ihnen wider. Die neue Situation schien sie mehr mitzunehmen, als es die Hüter vorher ahnen konnten. Keiner von ihnen hatte es beabsichtigt, ihr dermaßen weh zu tun. Jack hatte ihr nie Schmerzen zufügen wollen...
Er konnte es nicht ertragen, dieses bildhübsche Wesen, das sein Herz so bewegte, dermaßen verletzt zu sehen. Sie sollte nicht weinen, nicht seinetwegen.
Behutsam hob er seine Hand und strich Elsa die letzten, noch verbliebenen, Tränen von ihren, nun wieder rosigen, Wangen.
Zaghaft blickte die Königin zu ihrem Gegenüber auf.
Er brachte ihr soviel Wärme und Verständnis entgegen... Warum? Er kannte sie doch kaum. Wieso war er dann so freundlich, so hilfsbereit zu ihr? Der Hüter meinte zwar immer, er kenne sie schon seit ihrer Geburt, aber hatte er in dieser Zeit, die er sie nun schon zu kennen behauptete, je mit ihr gesprochen? Nein. Also konnte er sie nicht richtig verstehen. Aber was war dann der Grund für diese Zärtlichkeit? Elsa konnte sich das nicht erklären...
Sie schaute ihm tiefer in die Augen, in der Hoffnung, dort eine Antwort auf all die Fragen zu finden, die ihr gerade durch den Kopf gingen. Viel konnte sie nicht lesen. Es war ihr nicht möglich, mehr in ihnen zu sehen, als tiefstes Bedauern und Besorgnis. Doch dann war da noch dieses wohlige Gefühl, das Elsa immer dann empfand, wenn Jack Frost, der jüngste aller Hüter, bei ihr war... Hatte sein Verhalten vielleicht etwas damit zu tun? Nein, das konnte nicht sein. Wie konnte Elsa überhaupt nur einen Augenblick daran glauben, dass auch er diese Wärme und Geborgenheit empfand? Wahrscheinlich war es doch nur Mitleid, welches sein Handeln bestimmte...

Die verlorene HüterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt