Alleine ging er die verlassene Straße entlang. Der Regen prasselte auf das Pflaster und die Straßenlaternen spendeten nur spärlich kleine Inseln aus Licht im Ozean der Dunkelheit.
Er ging weiter, drehte sich immer wieder um, hatte das Gefühl verfolgt zu werden.
Endlich war er an seinem Ziel. Er betrat das Gelände durch das eiserne Tor und ging langsam zwischen den frisch aufgeschütteten Bergen aus Erde lang, unter dem die Toten zur letzten Ruhe gebettet wurden.
Endlich sah er seine Gruppe. Seine zweite Familie, mit der er alles teilte und teilen musste.
Da waren sie. Alle waren gekommen um die Nacht mit ihm zu feiern. Doch wussten sie ebenfalls, dass dies der letzte Ort war an dem sie je feiern würden.
Sie begrüßten ihn freundschaftlich, er grüßte zurück, lächelte.
Zeit für Trübsal gab es nicht. Sie alle wollten die Nacht genießen, ein Morgen würde es nicht geben.
Wieder einmal fragte er sich nach dem Warum.
Warum, warum, WARUM?
Warum mussten sie das tun?
Doch so durfte er nicht denken. SIE hatte es verboten und den heutigen Tag zum Schicksalstag bestimmt. Alles was SIE sagte musste getan werden, denn IHR Wort war Gesetz.
Doch sollten sie nicht alle überzeugt sein?
Egal, es ist richtig.
Er murmelte es wie ein Mantra.
Alle fanden sich zusammen, setzten sich in einen Kreis. Alle wussten was zu tun war. Keiner zögerte, alle waren überzeugt.
Nur er nicht, meinte er zu hören.
Sie mussten es tun. SIE befahl es.
Der Kelch wurde herum gereicht. Er trank. Zwei große Schlucke. Doch er konnte sich nicht überwinden zu schlucken. Er wusste was es bedeuten würde.
Wie er diese Angst hasste!
Wie in Trance beobachtete er wie sie müder wurden, immer müder. Schließlich kippte der erste um. Ganz langsam, wie in Zeitlupe fiel er nach hinten. Er traute sich immer noch nicht zu schlucken.
Einer nach dem anderen fing an zu zittern.
Einer nach dem anderen ging zu Boden.
Er sprang auf. Er konnte das nicht tun. Er rannte. Rannte, rannte bis er nicht mehr konnte.
Auf dem Weg hatte er die zähe Flüssigkeit ausgespuckt. Er hatte es nicht getan. Warum? Er konnte einfach nicht.
Er hörte SIE toben, brüllen. Doch die Straße blieb still. SIE gab ihm die Schuld. Er war sich sicher. Er wusste es.
Seinetwegen würde niemand ins Paradies kommen. Seinetwegen.
Er würde bestraft werden. Er würde leiden.
Er geriet in Panik. Was würde SIE tun?
Er begann wieder zu rennen. Rannte, rannte Hals über Kopf vor seinem Gewissen und den praktisch sichtbaren Klagen der anderen davon. Er bemerkte nicht wohin.
Seine Gedanken rasten hin und her.
Was würde SIE tun?
Was sollte er tun?
Wie konnte er entkommen?
Er blieb stehen, schaute die nackte Felswand hinunter.
Sein Atem ging schwer.
Das Wasser toste und die Wellen brachen sich am Fels.
Er schloss die Augen.
Wandte sein Gesicht gen Himmel.
Breitete die Arme aus.
Und tat den Schritt ins leere.