Eins

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Ich hatte Jamies letzten Anruf auf der Mailbox. Ich war im Büro gewesen und er hatte bei mir zu Hause vor der Tür gestanden, kein Schlüssel, keine Ahnung, wo ich war. „Hey Lou. Ähm... Sorry, ich will dich eigentlich nicht stören, weiß ja nicht, wo du bist und so... Auf jeden Fall, ich hab meine Jacke bei dir vergessen, die rote mit den Daunen, weißt schon, diese Prollige, die war doch vorgestern voller Dreck und du wolltest sie saubermachen. Tja... Ich warte immer noch drauf. Sorry außerdem, dass ich den Schlüssel verschlampt hab, ich lass mir bei Gelegenheit einen neuen machen, also, wenn du Zeit hast, ich wollte eigentlich Mittwoch mit Hamilton in die Stadt, du kannst ja mitkommen. Mensch Lou, du solltest mal dringend wieder bei dir jähten, ich hab mich gerade fast auf die Schnauze gelegt."
Ich kannte sie auswendig. Ich wusste genau, wann im Hintergrund der Schlamm unter seinen Schuhen matschte, wann die Krähe laut krächzend vorbeiflog und wann man den Motor eines Autos hörte.
Am Tag seiner Beerdigung stand ich am Seeufer. Es war kalt, doch ich hatte meine Schuhe ausgezogen und sie neben mich auf die Erde gelegt. Die kühle Luft roch nach Tau und feuchten Gräsern, und die hohen Pflanzen kitzelten an meinen Beinen und an meinen Fingern. Ich stand ganz starr da und blickte auf die flache Wasseroberfläche. Es gab keine einzige Welle, der ganze See war wie eingefroren. Ich atmete zitternd aus, eine Dunstwolke bildete sich vor meinem Mund und ich dachte daran, eine zu rauchen, tat es aber nicht, denn es hätte Jamie enttäuscht.
Dort war er gestorben. Direkt vor mir. Mein kleiner Bruder, der zuletzt beinahe täglich im Schwimmverein trainiert hatte, war in diesem See ertrunken. Es war so unwirklich. So surreal. Ich hätte schwören können, irgendwo in meinem Kopf seine Stimme zu hören, wie sie lachte und sagte: "Komm schon Lou, das war alles nur ein Scherz. Mensch, du hättest dein Gesicht sehen sollen."
Ich hatte heute morgen mein Gesicht gesehen, als ich mich vor den Badezimmerspiegel gestellt hatte. Als es dann an der Tür klopfte, hatte mein Herz einen Sprung gemacht, und wieder hatte ich auf seine Stimme gehofft, doch es war nur die von Charlotte gewesen, die gegen das Holz gehämmert und gefragt hatte, ob ich okay sei. Ich hatte nicht entschieden, dass sie bei mir schlief, das hatte sie getan, doch viel lieber wäre ich allein gewesen. Ihre Anwesenheit erinnerte mich die ganze Zeit an ihn, und auch ihre Worte taten das. "Du wirst das schon durchstehen. Du musst jetzt stark sein. Irgendwann ist es vorbei." Und dann, wenn es vorbei war? Kam er dann endlich aus seinem Versteck, mit den ganzen getarnten Kameraleuten, und wir konnten endlich darüber lachen?
Über das Wochenende schien sich etwas auf meine Brust gesetzt zu haben, das ständig schwerer geworden war, und nun erstickte es mich fast. Auch die Wände waren enger zusammengerückt. Ich hatte Bild von uns beiden auf meiner Kommode umdrehen müssen, um nicht ständig in sein lächelndes, fröhliches Gesicht zu sehen, denn es hatte mich mit einem vorwurfsvollen Blick durchbohrt. Seine Jacke, die tatsächlich unter meiner Schmutzwäsche in den Wäschekorb gestopft worden war, lag unter meiner Matratze. Ich hatte sowieso nicht im Bett geschlafen, sondern überall da, wo ich gerade war. Das hatte sich meistens als Sofa oder Sessel entpuppt, und Charlotte, die erst im Schlaf die Klappe hielt, hatte sich auf dem Boden einen Schlafsack ausgerollt. Vielleicht hatte sie Angst, dass ich mir etwas antat, schoss es mir durch den Kopf, während der stechende Wind unter meine Haare griff. Sah ich etwa aus wie jemand, der zu so etwas bereit war? Wie sah so jemand überhaupt aus?
Trotzdem war sie da, um mir Tee zu kochen und richtiges Essen in mich reinzuzwingen, obwohl ich kurz vorm Kotzen war, und irgendwie war ich ihr dafür dankbar, dass es ihr nicht am Arsch vorbeiging.
Mir war wieder einmal aufgefallen, dass Jamie Recht damit gehabt hatte, dass ich schlecht kompensieren konnte. Nicht nur schlecht, sondern auch falsch, vollkommen falsch. Als Mum und Dad vor zwei Jahren gestorben waren, hatten wir uns aneinander festgehalten, hatten aufeinander aufgepasst, aber alles, ohne uns in die Quere zu kommen. Während er mit leerem Blick in den Fernseher gestarrt und vergessen hatte, zu essen, war ich alle paar Stunden in der Küche am Kühlschrank gewesen und hatte Sachen in mich reingeschaufelt, ohne darauf zu achten, was und wie viel es war. Ich hatte mich nicht nur einmal übergeben, und irgendwann versprach er mir, endlich etwas zu essen, wenn ich damit aufhörte. Die Sorge in seiner Miene war zu sehen gewesen, aber nicht so, dass ich mich schlecht fühlte.
Ich vermisste ihn so sehr. Dieser Ausdruck in seinen Augen, als wir sie beerdigten, fehlte, sein Lachen fehlte, seine Umarmungen fehlten, sein Geruch, seine Schritte im Wohnzimmer und sein niedergeschlagenes Kopfschütteln, wenn ich nach Zigaretten gerochen hatte. Er war aus mir herausgerissen worden.
Ich hatte nicht bemerkt, dass er fort war. Natürlich hatte ich gewusst, dass er nicht zu Hause war, aber ich hatte nie daran gedacht, dass er wirklich nicht mehr da war. Ich hatte vorher nie darüber nachgedacht, aber als ich in einer kalten, weißen Leichenhalle auf sein aufgequollenes, bleiches, von blauen, geplatzten Adern und violetten Hämatomen übersätes Gesicht herabgesehen hatte, fragte ich mich, warum ich es nicht gespürt hatte. Warum es mich nicht in dem Moment wie ein Blitzschlag durchfahren hatte und warum ich nicht von einem komischen Gefühl oder so aufgeweckt worden war. Ich fragte mich, ob es an mir lag, dass ich es nicht geahnt hatte, dass ich es nicht gemerkt hatte.
Ich hatte die ganze Zeit gezittert wie ein totes Tier unter Strom, und das war es, was ich gefühlt hatte, ich hatte mich tot gefühlt, alles an mir war taub, und doch schüttelte es mich, als würden tausend Volt durch mich gejagt werden. Schließlich hatte ich genickt, und gemerkt, dass man es nicht erkennen konnte, weil ich so stark zitterte, und ich hatte die Hand nach ihm ausgestreckt, doch sie war über seiner verdeckten Brust schweben geblieben. Der Würgereiz hatte in meinem Hals gesteckt, und er krabbelte diesen langsam hoch. Ich hatte die Augen zusammengekniffen und tief durch die Nase geatmet, wie konnte mir nur hierbei schlecht werden? Ich hatte mit labbrigen Beinen vor meinem Bruder gestanden, meinem wundervollen, verkorksten, lustigen, perfekten Jamie, und ich hatte mich nicht übergeben wollen, das war so falsch. Ich hatte erneut genickt, diesmal kräftiger, und die Pathologin im weißen Kittel, die mir gegenüber an der anderen Seite des Metalltisches gestanden hatte, hatte ihn wieder zugedeckt und gesagt, wie sehr es ihr leidtäte. Ich hatte wieder genickt, und auf einmal hatte ich ihm das große Laken vom Körper reißen und ihm auf die grob zugenähte Brust schlagen wollen, einfach fest genug zuhauen, bis sein Herz wieder schlug. Und ich hatte sein Gesicht sehen wollen. Nie wieder davon aufblicken, egal, wie schrecklich es aussah.
Doch ich hatte mich umgedreht, steif wie ein Brett, und war mit dem Brechreiz auf den leeren Mülleimer zugewankt, doch ich war nicht bis dahin gekommen. Wenige Schritte davor hatten meine Beine so sehr geschlottert, dass ich gestrauchelt, zusammengebrochen und so hart mit dem Kopf auf die Fliesen aufgeschlagen war, dass für kurze Zeit Schwarz gesehen hatte.
Hinter mir raschelte das Gebüsch, und Charlotte stellte sich neben mich, den besorgten Blick auf mich gerichtet, doch ich mied ihn. "Du siehst hübsch aus."
Sie lobte ihr eigenes Werk. Sie hatte es an diesem Morgen geschafft, das Krähennest auf meinem Kopf wieder in Haare zu verwandeln, hatte sie so stark gekämmt, dass mir immer noch die Kopfhaut wehtat, und mir obendrein ein bisschen Schminke unter die Augen geschmiert. Ich war mir immer noch unsicher, ob ich ihr dafür danken sollte, doch ich glaubte, sie nahm es hin, dass ich nichts sagte, schließlich hatte ich das seit Tagen nicht gemacht.
Sie hatte sich auch zu seiner Beerdigung mehr oder weniger selbst eingeladen, sie hielt es anscheinend für angebracht. Sie hielt sich für meine beste Freundin, und ich tat das auch, seit ich keinen Bruder mehr hatte. Sie war nicht so, wie er gewesen war. Ihre Art war manchmal sehr narzistisch, doch ich widersprach ihr nie, was erstens daran lag, dass ich eh kaum redete, und zweitens, weil ich es einfach nicht konnte. Meine Durchsetzungsfähigkeit schwand, je besser man mich kannte, und Charlotte hatte sich große Mühe gemacht, sich so in mein Leben einzuklinken, dass sie alles über mich erfuhr. Im Gegenzug erzählte sie mir viel über sich, was sie gern tat. Scheinbar schien es manchen Menschen wirklich zu gefallen, über sich zu reden. Doch sie hatte auch gute Seiten, zum Beispiel ihre Umsetzung von "Freundschaft". Wir arbeiteten beide im selben Büro, und wir führten zusammen Recherchen für Storys und Artikel durch. Wenn sie Probleme mit dem Schreiben hatte, half ich ihr dabei, und im Gegenzug machte sie für mich Telefonate und sprach mit Leuten, was mir die Arbeit nicht nur erleichterte, sondern erträglich machte. Ich war kein großer Redner. Genauer gesagt hatte ich sogar manchmal Furcht davor, etwas zu sagen.
Bei Jamie hatte ich nie Panik. Und wenn ich welche hatte, war er da gewesen, hatte mit mir zusammen geschwiegen, wenn ich es brauchte, und mir zugehört, wenn Luft machen wollte. Er war der Einzige gewesen, bei dem ich mich gut gefühlt hatte. Ich würde das nie wieder so wie bei ihm haben, dieses bedingungslose, gegenseitige, verständnisvolle Vertrauen, dieses Gefühl, sicher zu sein. Ich war seine große Schwester gewesen, doch er hatte mich beschützt. Er war derjenige gewesen, der mich aus dem tiefsten Abgrund zog. Der mich davon abhielt, zu viel zu essen, zu wenig zu reden, zu sehr in mein Schneckenhaus zu kriechen.
Und jetzt war er weg.
Charlottes langes, karamellfarbenes Haar wehte ihr auf den Rücken, als die Luft uns um die Ohren pfiff. Sie fröstelte und zog ihre schwarze Jacke enger. Das Kleid, das sie trug, war von mir, sie hatte kaum schwarze Sachen. Als sie wieder zu mir sah, konnte ich nicht schnell genug wegschauen. Ihre braunen Augen blickten sanft. "Lou, ich hab dir das zwar schon so oft gesagt, aber es tut mir wirklich, wirklich leid." Sie griff nach meinem Arm und verhakte ihre Finger in meine. "Mensch, du hast ja eiskalte Hände. Wir sollten langsam mal los, es ist schon halb zwölf. Und, wirklich, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr es mir leidtut."

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