24.05.2013

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Hey, du.

Bin gerade mit Amy aus der Stadt zurück gekommen. Und weißt du was? Ich hasse mein Leben. Wir waren davor noch bei Penny, eine meiner engsten Freundinnen von der ich dir sicherlich auch noch viel erzählen werde, und wir haben für uns drei, und Bobby, den Flug für London gebucht. Erwähnte ich schon, dass ich London liebe und irgendwann dort wohnen möchte? Auch wenn ich extreme Schwierigkeiten mit dem britischen Akzent habe.. ich liebe London. Aber das ist nicht der Grund wieso ich mein Leben hasse. Der Grund ist: Geld. Weißt du, ich verdiene nicht so viel und muss mein Auto unterhalten und dann habe ich leider eine Kaufsucht, was Schuhe und CDs betrifft. Ja.. heute habe ich mir zwei Alben von Kings Of Leon gekauft. Jetzt bin ich fast pleite und morgen gehen Konzertkarten raus und wir wollen doch alle noch dahin und ich bin so verzweifelt. Ach, und weißt du was ich genau so viel hasse wie mein Leben? Diese dämlichen Folien, in denen die CDs drin sind. Ich sitze hier und verzweifele, weil ich sie nicht aufbekomme. Warte kurz, ich hole eben eine Schere.

Ich habe es geschafft. Gib mir ein 'Halleluja'!

So, während ich dir jetzt schreibe, höre ich mir das erste Album einfach mal an.

Eigentlich hatte ich nicht vor, in der Gegenwart zu starten, denn ich wollte dir ja von meinem Leben berichten. Von Anfang bis jetzt. Aber so ein kleiner Zwischenstand am Anfang, kann sicherlich nicht schaden.

Ich fühle mich gerade ganz komisch. Wie fange ich das an?

Okay. Also meine Kindheit war eigentlich ganz unbeschwert, würde ich sagen. Ich hab mich mit meinen Brüdern gezofft, habe an Weihnachten vor der Tür gelauscht und eigentlich habe ich nie Blödsinn gemacht. Jetzt wo ich so nachdenke, kann ich ganz stolz sagen, dass meine Kindheit eigentlich total gut war. Aber irgendwann fing das mit dem Mobbing an. In der ersten Klasse. Weißt du, ich hab mich damals so furchtbar gefühlt, dass ich weinend nach Hause kam. Ich stand da irgendwann nichtsahnend in der Pause und ein Junge nannte mich Alien, weil ich abstehende Ohren habe. Ich habe nie verstanden, wieso er das gesagt hat. Schließlich kannte ich ihn nicht einmal. Und wer hat ihm überhaupt das Recht dazu gegeben? Meine Mama meinte, dass wir zu einem Arzt gehen könnten und er würde mir die Ohren anlegen. Aber ich hatte da so Angst vor, dass ich bis heute meine Ohren behalten habe. Und mittlerweile weiß ich, dass sie ein Teil von mir sind. Zwar kein hübscher Teil, aber ein Teil.

Ich würde dir so gern noch viel mehr aus meiner Grundschulzeit berichten, aber ich weiß leider nicht mehr so viel. Doch! Mir fällt auf, dass ich von Klasse 1 bis Klasse 4 nur ein einziges Mal geweint habe. Und das nur, weil ich mit zu Bobby nach der Schule sollte und er mit dem Bus fahren musste. Du solltest wissen, dass Bobby in meinem Nachbardorf wohnt. Und da ich keine Busfahrkarte hatte, hat meine Lehrerin mich nicht gehen lassen. Dabei war ich doch so aufgeregt, denn ich bin vorher noch nie Bus gefahren. Das gute an der Geschichte ist, dass ich im Nachhinein doch durfte, weil ich geweint habe. Traurig eigentlich. Was Kinder alles mit Tränen anrichten können. Wie meine jüngste Cousine Leila. Wenn die weint, drehen alle durch und benehmen sich ebenfalls wie Kinder, nur damit sie wieder lacht.

Man. Dich interessiert das sicherlich nicht einmal.

Was kann ich dir sonst erzählen?

Nun ja. Ich bin einer Großfamilie aufgewachsen. Ich habe sechs Onkel und fünf Tanten. Und das ist nur der Teil meiner Mum. Die Seite meines Vaters war nie so mein Fall. Ich hab mich immer, und tue es noch heute, ganz besonders gefühlt und ich liebe es zu erzählen, dass ich so viele Cousins und Cousinen habe. Wir leben übrigens in dem Elternhaus meiner Mutter. Omi und Opa haben unten gewohnt, bis sie beide 2007 gestorben sind. Meine Omi hat den Tag voraus gesagt. An Heilig Abend 2006 meinte sie, dass sie im Januar sterben wird. Und es ist eingetroffen. An dem Tag war ich bei Bobby, weil meine Eltern im Krankenhaus waren, und seine Mum hat uns die Nachricht überbracht. Wir lagen zwei Stunden weinend im Bett. Das sind so Momente, die man wohl nie vergisst.

Mein Opa ist nur wenige Monate darauf verstorben.

"Er hat diese Frau so wahnsinnig geliebt, dass er es ohne sie nicht aushielt."

So sagt meine Mama das zumindest immer. Aber da muss wohl was dran sein, wenn man zwölf Kinder und noch ganz viele Pflegekinder großgezogen hat. Ich beneide das und ziehe meinen Hut vor den beiden. Und ich bin wahnsinnig stolz mich ihr Enkel nennen zu dürfen.

Übrigens war meine Omi Holländerin. Das macht mich auch ein bisschen zu einem Holländer. Ich finde das super. So ganz deutsch muss sicher langweilig sein.. oh, ich hoffe ich habe dich nicht verletzt, falls du ganz - wie soll ich es nennen? Reinrassig bist? Egal.

Jedenfalls blicke ich auf die ganzen Treffen mit meiner Familie zurück. Das Highlight jedes Jahr ist unsere Weihnachtswanderung am Tag vor Heilig Abend. Wir treffen uns bei einer meiner Cousinen und laufen von da aus in eine Hütte, die im Wald steht. Damals war vorher das 'Christkind' da und hat Geschenke gebracht. Kannst du dir vorstellen, wie viele Geschenke das sind? Für jedes Kind mindestens eins. Das war ein gigantischer Berg und wir standen alle jedes Jahr aufs Neue mit großen Augen davor und haben gewartet, bis das Licht ausging und einer meiner Verwandten anfing die Geschenke zu verteilen. Vorletztes Jahr hatte ich die Ehre. Denn ich gehöre ja mittlerweile zu den Großen und bin sozusagen am Vormittag das Christkind. Naja, und irgendwie hat das Ganze langsam seinen Glanz verloren. Ich meine, es ist schön wenn fast alle in der Familie da sind, zusammen Weihnachtslieder singen und einfach niemand unglücklich ist.. aber manchmal wünsche ich mir einfach die Zeit als Kind zurück. Nicht nur wegen Weihnachten. Einfach wegen allem. Damals musste ich mir keinen Kopf um Geld, Hass, Neid, Anerkennung und Selbstmord machen. Heute bestimmen diese Dinge mein Leben. Das ist scheiße, denn dabei will ich einfach wieder im Garten zelten, mit Amy und ihrem Bruder Phil Game Boy spielen und das Leben genießen.

(Auf dem Album ist ein Lied namens 'No Money'. Ich finde das jetzt einen super Zufall.)

Ich muss leider Schluss machen. Einer meiner Onkel hat gerade den Vogel beim Schützenfest geschossen und ich soll meine Mum und meine Tante zum Feiern dorthin fahren. Eigentlich möchte ich nur ins Bett. Mein Bett ist nämlich irgendwie mein lieblings Platz. Das ist schon sehr traurig. Aber ich liebe es zu schlafen, denn ich träume die mysteriösesten Dinge.. oh, Mama ruft. Ich muss los. Ich wünsche dir einen schönen Freitagabend.

Ciao und mach's gut!

(Übrigens gefällt mir das erste Album bis jetzt ganz gut. Solltest du mal rein hören.)

Ben. x

DauerKopfKino.Where stories live. Discover now