"Auf Jamie", sagte irgendjemand, und alle um mich herum erhoben ihre Gläser und prosteten sich zu.
Die Trauerfeier war recht offen und es waren doch mehr Leute gekommen als ich erwartet hatte. Eingeladen hatte ich eigentlich niemanden, aber anscheinend hatte Jamie ein paar Freunde mehr gehabt als ich. Mir gefiel nicht, dass es hier so voll war. Der kleine Saal in der Kapelle wurde automatisch gemietet, wenn eine Beerdigung stattfand. Man konnte einfach danach hingehen, den Leichenschmaus abhalten und sich unterhalten. Ein Foto von Jamie stand auf einem Tisch mit Blumen und Kränzen, die die Leute mitgebracht hatten, und eine Selbstbedienungstheke mit kleinen Sandwiches, Obst, Kuchen und sonstigem Zeug stand gleich am Eingang. Es war zwar nicht so voll, dass man keinen Platz mehr hatte, aber für mich zogen sich die Wände von Minute zu Minute enger.
Mir war speiübel. Charlotte war seit zwanzig Minuten unauffindbar. Ich musste Beileidsbekundungen entgegennehmen. Leute, die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte, bahnten sich den Weg zu mir durch und reichten mir die Hand. Ich tat alles nur mit einem stummen Nicken ab, und das reichte meistens. Niemand schien große Reden von mir zu erwarten.
Ich stand vor dem Tisch mit Jamies Bild und sah es mir an. Es war ein Foto, das ich auf seinem Abschlussball geschossen hatte. Er, frische achtzehn, im Anzug (im "Pinguinkostüm", wie er es genannt hatte) allein in einer Ecke der geschmückten Sporthalle stehend. Er sah unverschämt gut aus, er hatte an dem Tag allein für seine pechschwarzen Haare eine halbe Stunde gebraucht. Als er dann fluchend im Spiegel einen monströsen Pickel entdeckt hatte, hatte er sich ein wenig von meiner Abdeckcreme draufgetan, und aus Versehen ein wenig davon auf der schwarzen Jacke verschmiert. Es hatte ewig gedauert, das rauszukriegen, doch am Ende hatte er sich wirklich sehen lassen können. Ich untersuchte das Bild weiter. Wir glichen uns eigentlich kaum, wie ich fand. Er hatte zwar genau wie ich die typisch asiatischen Mandelaugen, die er immer ekelhaft klischeehaft gefunden hatte, doch sein Gesicht war viel kantiger als meins. War gewesen. Sein Gesicht war gewesen. Jetzt war es aufgeschwemmt und lila angelaufen und tot.
"Entschuldigung?"
Ich sah zu meiner Rechten, wo die Stimme herrührte. Dort stand ein großes, schlaksiges blondes Mädchen, das sie schief anlächelte. Sie sah verheult aus, in ihren schlammfarbenen Augen waren geplatzte Äderchen. "Hallo. Ich bin Hamil- Jenny Hamilton, ich war eine Freundin von Ihrem Bruder. Es tut mir wirklich leid, was passiert ist."
Ich ergriff die Hand, die sie mir hinhielt. Sie war warm und etwas feucht. Wir schüttelten unsere Hände nicht, hielten sie nur kurz fest. Jamie hatte mit ihr in die Stadt gewollt, fiel mir ein, das hatte er auf meine Mailbox gesprochen.
"Ähm, ja, ich - ich wollte nur kurz erzählen, was für ein toller Mensch er war, doch das wissen Sie ja sicher", lächelte sie und ihre Augen wurden so wässrig, dass sie glänzten. "Wir kannten uns aus der Schule", fügte sie hinzu, weil sie mein Schweigen anscheinend als Verwirrung interpretierte. "Wir waren zusammen in einigen Kursen, und wir wollten auf die gleiche Uni."
Ich merkte, dass ich etwas sagen musste, räusperte mich und stammelte: "Freut mich, dich kennenzulernen, Jenny."
Sie lächelte wieder und deutete dann hinter sich. "Freut mich auch. Ich geh mich kurz im Gästebuch eintragen."
Als sie mir den Rücken zugekehrt hatte, tippte mir jemand auf die Schulter, und ich erschrak fast zu Tode. Es war Charlotte, die ihre roten Lippen zu einem ernsten Strich verzogen hatte. "Hey. Es sind Cops hier. Sie wollen mit dir reden."
"Was - was meinst du?", fragte ich irritiert.
"Sie warten draußen, sie haben ein paar Fragen."
Ich wollte wissen, wo sie die ganze Zeit gewesen war. "Aber ich hab doch auf dem Revier schon Fragen beantwortet."
Sie zuckte die knochigen Schultern. "Sie haben eben noch ein paar. Komm." Sie packte meinen Ellbogen und zog mich durch die Trauergäste zur offenen Tür der Kapelle. Vor den steinernen Treppenstufen in den Innenhof blieb sie stehen, ich konnte die zwei Gestalten neben dem Auto aus den Augenwinkeln sehen.
Charlotte drückte mir ihre Hand in den Rippenbogen. "Los, das ist nur ganz kurz, haben sie gesagt."
Etwas verzweifelt sah ich ihr hinterher, wie sie wieder verschwand, und schlang dann die Arme um den Oberkörper, weil es beim Rausgehend schlagartig kalt wurde.
Die beiden Cops waren die gleichen, die mich schon beim ersten Mal befragt hatten, gleich nachdem ich Jamies Leiche identifiziert hatte. Ich hatte ziemlich herumgestottert, und in meinem Kopf war ein schmerzhaftes Durcheinander voller grausiger Bilder gewesen: Jamie, mit dem Gesicht nach unten auf der Wasseroberfläche treibend, Jamie, nach Hilfe schreiend, während es ihn nach unten zog.
"Ja?", fragte ich angespannt, man hörte das Frösteln in meiner vibrierenden Stimme.
"Miss Yang", sagte der Größere der beiden. Sie beide trugen eine Uniform und mein Blick wanderte automatisch zu den Waffenhalterungen an ihren Gürteln. Ich hatte ihre Namen vergessen. "Entschuldigen Sie, dass wir Sie mitten bei der Trauerfeier stören, aber bei der letzten Befragung ist viel unbeantwortet geblieben."
"Okay", erwiderte ich. Irgendwie begrüßte ich es, nicht mehr zwischen all diesen Menschen zu stecken, und gleichzeitig fand ich das hier nicht besonders angenehm.
Der Kleinere - er ging mir ungefähr bis zum Kinn - lehnte sich mit der Kehrseite an die Kühlerhaube des Wagens und zückte seinen Notizblock. "Sie haben angegeben, dass Sie Ihren Bruder das letzte Mal am Samstag gegen vierzehn Uhr gesehen haben?"
"Ja." Er hatte die Jacke bei mir gelassen.
"Gut, also, die Nachricht auf der Mailbox ist dann auch noch zu berücksichtigen, und danach hat ihn niemand mehr gesehen, was bedeutet, dass sein letztes Lebenszeichen dann am Sechzehnten um achtzehn Uhr war."
Ich kannte seine wahrscheinlich letzten Worte auswendig. Mir wurden wieder die Beine schwach.
"Die Pathologin hat herausgefunden, dass er bereits acht Stunden tot war, als man ihn gefunden hat. Das bedeutet, dass es so war wie bei den anderen." Er warf seinem Kollegen einen Blick zu.
"Bei... bei den anderen?"
"Miss Yang, Ihr Bruder war ein guter Schwimmer?"
"Ein außerordentlich guter", antwortete ich, und etwas stach in meine Brust. "Was meinten sie damit, gibt es etwa noch mehr Opfer?"
Die beiden sahen sich an, als würden sie sich stumm beraten, ob sie es mir sagen könnten, und schließlich sagte der Größere: "Allerdings. Das hier ist eine relativ kleine Gemeinde, Sie hätten eigentlich davon wissen müssen. Über die letzten zwei Jahre hinweg hat es elf Opfer gegeben, alles junge Männer zwischen sechzehn und zweiundzwanzig, alle im gleichen See ertrunken und bei keinem von ihnen Anzeichen, dass sie sich gewehrt haben oder irgendetwas in der Art. Wir gehen davon aus, dass es sich um den gleichen Täter handelt."
"M-Mord..." Mir hätte es schon früher klar sein müssen, es jedoch so offensichtlich vor mir zu haben, überforderte mich ein wenig. "Jamie... er wurde getötet..."
"Kennen Sie jemanden, der Ihrem Bruder etwas antun wollte? Irgendwelche Feinde, Neider, jemand, der zu so etwas fähig wäre?"
Ich öffnete den Mund, doch es kam nichts raus. "Wer... wer tut so etwas?", presste ich schließlich hervor, und allein der Gedanke daran, dass man Jamie etwas angetan hatte, widerte mich an.
"Das fragen wir Sie."
"Mein Bruder war ein toller Mensch", wiederholte ich Jennys Worte. "Ich kenne niemanden, der ihm etwas Schlechtes wollte." Glücklicherweise hatte sich meine Stimme wieder etwas gefestigt.
"Okay. Und Jamies Mitbewohner?"
"Was?"
"Sam Watson. Sie kennen ihn doch?"
"Ja, jaja." Jamie war direkt nach der Schule ausgezogen und hatte bei ihm gelebt. Er war ein netter Kerl, ich kannte ihn seit die beiden Freshmen zusammen waren. "Er ist okay, wieso?"
Der Große notierte sich etwas. "Haben Sie seine Telefonnummer?"
Überrascht wollte ich in meine Hosentasche greifen, und merkte, dass ich ein dämliches Kleid anhatte und das Ding zu Hause war. Außerdem fiel mir auf, dass Sam heute gar nicht gekommen war. "Ich hab nur die Nummer von ihrem Festnetz-Telefon, aber ich hab mein Handy nicht dabei."
"Ist okay. Wir würden sowieso Ihr Haus nach Spuren durchsuchen. Es liegt doch direkt am See, richtig?"
"Ja, aber..."
"Gut. Brauchen wir bei Ihnen einen Durchsuchungsbeschluss oder erlauben Sie uns, dass wir uns mal umschauen?"
Ich schluckte, mein Kopf pulsierte. "Okay."
"Super." Er ließ seinen Stift klicken und steckte den Block wieder in seine Jacke. "Das wär's fürs Erste. Wir melden uns bei Ihnen, wenn wir noch weitere Fragen haben, und Sie rufen uns an, wenn Ihnen irgendwas einfällt."
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Sirenenleid
ParanormalIn der englischen Kleinstand Halsdour spielt sich eine grausame Mordserie ab. Junge Männer werden entführt und Tage später ertränkt im See aufgefunden. Die örtliche Polizei steht vor einem Rätsel, doch eins haben alle Opfer gemeinsam: Sie zeigen kei...