Jon

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Der Tag war heiß. Ich stehe in Kreuzberg an einer Brücke lehnend über der Spree. Die orangefarbenen Lichter der Straßenlaternen werden vom Wasser reflektiert und erwärmen das Abbild des Großstadtdschungels. Sommer in Berlin. Es sieht mehr nach Italien aus. Venedig oder so. Nur mit Autos. Und allgemein lauter.

Es ist 10 nach 9. Ich bin relativ pünktlich für meine Verhältnisse. Größtenteils wohl durch die Absicht motiviert, das Treffen schnellstmöglich hinter mich zu kriegen. Mein Blick durchstreift den Tumult der Horden an jungen gutaussehenden Menschen. Meist sind es typische Studenten mit ökologisch korrekten Jutebeuteln und Häkelpullovern, die letztendlich eher modisch wirken sollen als ernsthaft ökologisch korrekt. Sie alle sind gleich. Sitzend, stehend, lachend, wankend, suchend. Mir ist schlecht. Von Wiebke keine Spur. Das Buch und diverse Flaschen an Alkohol liegen schwer in meiner Tasche und die Träger krallen sich in meine Schulterhaut. Ich kippe einen Schluck Whiskey hinunter. Gegen die Schmerzen, gegen das Warten, gegen die Leere.

15 nach 9. Ich bin genervt und komme auf unnötige Gedanken. Wie dumm kann man nur sein, was mit der Schwester des besten Freundes zu haben. Allein die Vorstellung an ihr schrilles Lachen mit ihren spitzen Zähnen lassen den Kater von gestern Nacht wieder hochkommen. Ich konnte sie nicht einmal flachlegen. Dumm. Irgendein Mädchenscheiß. „Nicht heute, der Alkohol..." Und jetzt bleibt das innere Nichts und die eingeengte Beklemmung nach einer zu intimen Nacht für zu hohe Temperaturen mit zu wenig Erinnerungen, die wirklich zählen könnten. Aber das Buch musste sie natürlich bei mir vergessen. Dumm. Das, was ihr ja so wichtig sei. Nun, vielleicht belüge ich mich auch manchmal selbst, aber wer ist heutzutage schon ehrlich.

Quietschende Fahrradreifen halten vor meinen Füßen. Sie steigt vom Sattel und schwebt ein wenig. Ich schaue kurz auf mein Handy und sehe, dass sich Roman gemeldet hat, wo ich bin, entscheide mich aber, erst später zu reagieren. Es ist 20 nach 9. Ihr linker Mundwinkel erhebt sich federleicht nach oben. Kaum merklich, wohl nur einige Millimeter, aber ihr Gesicht färbt sich auf der Stelle in ein tausendfach anderes Licht. Sanfter irgendwie. Währenddessen spüre ich meine schwitzenden Hände. „Oh, wartest du schon lange? Entschuldige die Verspätung. Und schön, dich zu sehen", sagt sie. „Ach du, nein. Alles cool", erwidere ich. „Dann ist ja gut", sagt sie. Wir setzen uns und schweigen. Eine beißende Stille nagt sich in jede Pore meines Körpers und klebt sich dort fest wie zu fettige Sonnencreme. Ein schwüler Windhauch weht in mein Gesicht, aber selbst dieser ist zu schwer, um meine Gedanken zu lockern. Eigentlich wollte ich so schnell wie möglich los von hier. Die Party bei Ole und Finn ist schon längst am laufen. Dieses Drängen, immer irgendetwas erleben zu müssen, wohl nur um endlich ein Gefühl zu spüren, irgendwo, auch wenn es das mieseste, erbärmlichste unter der brennenden Sonne ist. Aber der Drang ist weg. Blaue Augen blicken in Grüne. Hässlich ist Wiebke nicht. Vielleicht nicht eine dieser Traumfrauen à la Megan Fox wie man sie aus schlechten Actionfilmen kennt. Ich weiß nicht einmal, ob ich Megan Fox wirklich schön finde, aber es gibt meist einen Punkt im Leben, wo man als Typ lernt, solche Frauen geil zu finden, um mitwirken zu können bei den Coolen. So wie man ja auch irgendwann von Playmobil auf Mountainbike auf BMW kommt. Hässlich ist Wiebke jedenfalls nicht. Ein wenig knabenhaft eventuell, durch ihre zierliche Gestalt. Als könnte man sie umhauchen wie eine Pusteblume.

Ein Vogel neben mir plustert sich mit viel Gefiderschwung auf und lässt mich aus meinen Gedanken hochfahren. Abwesend trete ich ihn weg und mache Wiebke im selben Moment, wie aus dem Nichts aus mir sprudelnd, auf ihr Buch aufmerksam. Sie nimmt es in ihre zarten Hände und blickt lächelnd vom Buch zu mir auf. Ich denke mir, dass sie anders wirkt als sonst. Sie ist sehr ruhig, irgendwie anmutig. Wie ein hilfloses Reh. Nein, ansich auch das nicht. Wenn ich darüber nachdenke wirkt sie viel sicherer als sonst in ihrem trunkenen Teenietraum. Normalerweise scheint sie viel jünger als Roman und das obwohl die beiden Zwillinge sind. Mein bester Freund Roman, der das von letzter Nacht Himmel Herr Gott nochmal niemals erfahren darf. Vielleicht leben wir alle manchmal unseren trunkenen Teenietraum. Mir wird wieder schlecht und ich frage sie, warum ihr das Buch so wichtig sei. Ich höre ihren Worten nur halb zu. Sie nennt schöne Begriffe, die ein wenig floskelhaft aneinander gereiht werden, was auch am Buch liegen kann und nicht zwanghaft an Wiebke. Außerdem können grandios platzierte Worte vielleicht auch wahr sein. Halb wahr zumindest. Beziehungsweise nicht unbedingt weniger wahr als es sonst der Fall ist. Das Leichte, das Schwere, die Zwanghaftigkeit nach Frauen, der Prager Frühling und die Sorten an Liebe. Ich hatte schon immer eine Schwäche für zauberhaft dahin gestellte Worte. Funken sprühen. Funken, die sonst nie da sind. Funken, die für eben diesen Moment alles erleuchten. Alles, was wichtig ist. Die Realität wird eingeräumt durch die schönere Realität. Und Wiebke erzählt mir eine dieser schöneren Realitäten. „Ach, also so ein Klischeekitsch", sage ich und blicke in ein irritiertes Gesicht. Ihre blasse Haut wird quasi weiß wie ein Blatt Papier, aber ihr Lächeln bleibt ihr. Ich mag es, Leuten emotional wehzutun. Provokation löst Hemmungen und so sieht man das, was dahinter steckt. Wiebke lässt sich bis auf ihre tote Haut aber nichts anmerken, wovon ich beeindruckt bin, aber automatisch selbst verunsichert werde und ein wenig Selbstzweifel hochkommt. Sie schaut auf ihr Handy und will plötzlich los. Zu Finn und Ole. Das wird ja eine Feier, denke ich mir und lache sarkastisch auf. Als wir losgehen, bemerke ich, dass meine Übelkeit verschwunden ist.

Wo ist der Ort, wo die Funken sprühen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt