12. Akt - Die Flucht

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Die drei Mädchen starrten mich an, als hätten sie noch nie einen Jungen gesehen. Genau genommen war ich ja auch keiner, weswegen ich mich noch merkwürdiger fühlte. Am meisten Angst machte mir jedoch Tess' Blick. Sie saß neben ihrer Freundin Nicki auf dem Bett gegenüber von Julie und mir und starrte mich mit leicht geöffnetem Mund neugierig an. Müsste sie mich nicht eigentlich abfällig ansehen? „Alles okay?", fragte ich zaghaft in die Runde. Tess legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. Dann bekam sie große Augen und fing an zu grinsen, als sei ihr gerade eine Idee gekommen. Sie erhob sich langsam und schaute grinsend auf mich herab. „Dass du hier schlafen darfst, kostet aber was." Ängstlich sah ich zu ihr hoch. „Sei nicht albern, Tess", meinte Julie. Tess jedoch, fing noch breiter an zu grinsen. „Ein Kuss für jede von uns", sagte sie zuckersüß und legte den Kopf schief. Warum um alles in der Welt, wollte Tess mich plötzlich küssen? Ich war doch kein besonders heißer oder interessanter Junge. Als Mädchen trifft das natürlich auf mich zu, fügte ich in Gedanken grinsend hinzu. „Ich dachte, ich wäre nicht dein Typ", sagte ich so lässig wie möglich. Tess leckte sich über die Lippen und beugte sich zu mir herunter. Mein Blick fiel sofort in ihr viel zu weites Dekolleté und ich verdrehte genervt die Augen. „Das ist ja das Interessante", hauchte sie und richtete sich wieder auf. Am liebsten wäre ich schreiend davon gelaufen, doch ich hatte keine Wahl. Bei Riley und Lewis konnte ich mich heute nicht mehr blicken lassen. Ich wollte es auch nicht. Vielleicht würde ihnen selbst wieder einfallen, dass Nick ein riesen Arschloch ist und ich bloß meiner Verpflichtung nachgegangen war, um nicht als Mädchen geoutet zu werden.

Nun starrte Tess mich mit einem derart lasziven Blick an, dass ich vollkommen die Kontrolle verlor. Ich sprang auf und starrte sie wütend an. „Du bist so widerlich. Ich fasse es nicht, dass Riley sich mit dir abgibt. Er hat etwas Besseres verdient." Tess starrte mich erschrocken an und wich einen Schritt zurück. „Und ich bin wirklich ein riesen Vollidiot", fügte ich laut seufzend hinzu. Warum ließ ich mich von Nick so fertig machen? Riley und Lewis sind in kurzer Zeit zu meinen Freunden geworden, wenn sie von meinem wahren Ich erfahren, kann das doch nicht so schlimm sein. Doch leider war ich mir ziemlich sicher, dass Nick es nicht nur den beiden erzählen würde.

„Alles okay?", fragte Julie mich verlegen. „Kann ich bitte einfach hier schlafen?", fragte ich erschöpft. Tess und ihre Freundin sahen mich noch immer geschockt an. „Stehst du etwa auf Riley?", fragte Tess und verzog das Gesicht. Das gab mir den Rest. Meine Wut kochte über und ich packte meinen Koffer, der noch immer an der Tür stand. „Selbst wenn es so wäre, geht dich das erstens nicht an und zweitens bin ich eine viel bessere Wahl als du hohle Nuss." Nicht gerade ein ernstzunehmendes Schimpfwort, doch unter die Gürtellinie würde ich jetzt nicht gehen. Ich hatte auch so schon genug Probleme.

Tess lachte trocken auf. „Du bist ein Junge. Rileys Wahl wird niemals auf dich fallen, du Idiot." In meinen Augen sammelten sich Tränen. Merkwürdigerweise verletzen mich ihre Worte, obwohl sie nicht wirklich der Wahrheit entsprachen.

Ohne ein weiteres Wort stürmte ich aus dem Zimmer und lief direkt in die Arme eines Lehrers. Perplex blieb ich stehen und formulierte in meinem Kopf schon eine plausible Erklärung, warum ich gerade aus einem Mädchenzimmer gekommen war, als Tess' Stimme hinter mir ertönte. „Herr Schröder. Gut, dass sie gekommen sind", sagte sie übertrieben besorgt. Sie schob mich zur Seite und stellte sich vor den Lehrer, der uns misstrauisch musterte. „Robin wollte unbedingt bei Julie schlafen und hat unsere Bitte, dies nicht zu tun, überhaupt nicht beachtet." Mir fiel die Kinnlade herunter und ich blickte entsetzt zwischen Tess und dem Lehrer hin und her. „Das stimmt nicht", mischte sich Julie ein. Sie erschien neben mir und warf Tess einen nicht weniger geschockten Blick zu. Tess gab ein verächtliches Schnaufen von sich und sah wieder verzweifelt zu Herrn Schröder. „Sie haben doch gesehen, dass er gerade bei uns war." „Ich kam mit dem Koffer raus", sagte ich wütend. „Ich wollte nicht hier schlafen. Anfangs schon, aber..." Ich hätte mich ohrfeigen können. Abrupt hielt ich inne und bereute meine letzten Worte zutiefst. Auch wenn Tess eine Lüge erzählt hatte, so hatte ich mit diesen Worten gerade ein Geständnis abgelegt. Herr Schröder stemmte die Hände in die Hüften. „Also ich weiß wirklich nicht, was hier plötzlich los ist. Das ist schon der zweite Junge innerhalb von zwei Tagen, den ich in eurem Zimmer erwische." Ich blinzelte verwundert. Tess nickte heftig und zeigte gespieltes Verständnis. Herrn Schröder fiel das vermutlich nicht auf. „Ich weiß. Das ist wirklich sehr anstrengend." Was zum Teufel redete sie da? Und wieso schien Herr Schröder ihr zu glauben. „Aber Robin ist nicht..." „Mädels, bitte", sagte er und schnitt Julie das Wort ab. „Robin hat doch gerade selbst gesagt, dass er hier schlafen wollte. Und aus welchem Grund auch immer er das tun wollte, es ist verboten." Mein Herz sank mir bis in die Kniekehlen. Würde ich jetzt rausfliegen, weil ich als verkleideter Junge in einem Mädchenzimmer schlafen wollte? Darüber würde ich mich doch bis in alle Ewigkeit ärgern.

„Ich muss dir eine Strafarbeit aufdrücken. Und sollte so etwas noch einmal vorkommen, war's das für dich." Ich hätte vor Erleichterung auf der Stelle auf und ab springen können. Doch ich ließ meine Freude nicht nach außen dringen. Stattdessen nickte ich ernst. „Danke, Herr Schröder. Das war ein dummes Missverständnis. Was wird denn meine Strafe sein?" „Morgen um neun Uhr kommst du bitte zum Zimmer 20. Dort ist mein Büro." Das war immer noch besser, als nach Hause zu fahren. Und da morgen Samstag war, verpasste ich sogar keine Theoriestunde. „Deine Strafarbeit erfährst du dann. Und jetzt suche bitte dein Zimmer auf und geh schlafen." Mein Magen zog sich zusammen. „Ich habe mich mit meinen Zimmergenossen gestritten", erklärte ich. Herr Schröder seufzte. „So lange ihr euch nicht prügelt, musst du leider versuchen, dich mit ihnen zu vertragen. Wir haben keine Einzelzimmer und es ist auch sonst nichts mehr frei." Ich senkte den Kopf und griff nach meinem Koffer. „Na gut", murmelte ich. Bei Riley und Lewis war es immer noch besser, als bei Nick oder bei der widerlichen Tess.

Ich verabschiedete mich kurz von Julie, die mir besorgt hinter her schaute und ging dann sehr langsam zu meinem Zimmer. Vor der Tür zögerte ich noch einmal ziemlich lang, bis ich schließlich leise anklopfte. Hineinplatzen wollte ich jetzt ganz sicher nicht. „Wer ist da?", hörte ich Lewis fragen. Ich biss mir auf die Lippe und antwortete mit leiser Stimme. „Robin." Stille. Dann wurde die Tür so heftig aufgerissen, dass ich zusammenzuckte. Vor mir stand Riley, der offenbar schon im Bett gelegen hatte. Er trug bloß eine Boxershorts und seine Haare waren verstrubbelt. „Was?", blaffte er. Am liebsten hätte ich ihm schluchzend die ganze Wahrheit gesagt, doch das war vermutlich keine gute Idee. Also blieb ich bei der halben Wahrheit. „Ich wollte bei Julie schlafen, aber Herr Schröder hat mich erwischt und jetzt muss ich hier bleiben", erklärte ich reumütig. „Tut mir Leid", fügte ich leise hinzu. „Lass ihn rein", sagte Lewis, der nun neben Riley erschien. „Ich will kein Wort von dir hören", mahnte Riley mit erhobenem Zeigefinger. „Tu einfach so, als wärst du nicht da." Ich nickte und ging langsam an den beiden vorbei. Riley schmiss die Tür zu und legte sich ins Bett. Er drehte sich zur Wand und rührte sich nicht mehr. Lewis warf mir einen besorgten Blick zu und setzte sich auf sein Bett. Keiner von uns sagte etwas, um Riley nicht zu stören. Lewis beobachtete mich jedoch die ganze Zeit mit einem gequälten Gesichtsausdruck, während ich aus meinem Koffer meine Schlafsachen und mein Waschzeug holte. Schnell verschwand ich im Bad und machte mich bettfertig. So leise wie möglich legte ich mich in mein Bett und starrte die Decke an. Lewis regte sich nun auch und legte sich so in sein Bett, dass er seinen Kopf seitlich auf der Hand abstützen konnte. Er sah noch immer zu mir herüber. Irgendwann drehte ich mich zu ihm und warf ihm einen fragenden Blick zu. Lewis lächelte bloß und konnte den Blick anscheinend nicht von mir abwenden. Mir fiel ein, dass ich ihm erzählt habe, ich sei schwul. Von Riley wusste ich, dass er es auch ist, aber das hieß doch nicht automatisch, dass er auf mich steht. Oder? Ich konnte nicht noch mehr Chaos gebrauchen. Erst Julie und jetzt auch noch Lewis. Und dann war da noch die Sache mit Nick. Außerdem wusste ich offiziell noch gar nichts von Lewis' Sexualität. Riley hatte es mir im Vertrauen gesagt. Ich fragte mich, ob Lewis es mir auch noch erzählen würde. Und ob es überhaupt eine Rolle spielte. Immerhin war es sehr wahrscheinlich, dass ich ihn nach diesem Projekt nie wieder sehen würde.


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