Das Flüchten sei nun beendet. Hier will ich jetzt bleiben. Bis zum Schluß. Einen besseren Ort, um mein Leben ausklingen zu lassen, werde ich nicht finden. Wenige Tage nachdem der verblichene Mutterleib in der Friedhofserde eingebuddelt war, bin ich in panischer Eile aus der gehaßten Stadt zum vom Vater geerbten Hüttchen im westfälischen Schutzwald geflohen.
Dort darf ich nun allein im Schatten ehrwürdiger Wipfel hausen. Hütte und Wald haben mich inzwischen schon etliche Male vor dem Ärgsten bewahrt. Sie sollen mir demnächst beim Sterben behilflich sein. Ich hoffe, mich zu Füßen der dickleibigen Lieblingsbuche unbemerkt auflösen zu können. Am Ende als Nahrung für eine hundertjährige Baumriesin dienen zu dürfen, ist mir ein tröstlicher Gedanke.
Wahrscheinlich lauert der Schnitter schon am Waldrand. Harrt aus im schummerigen Versteck. Wartet geduldig auf meine schwächste Stunde. Um dann entschlossen loszumarschieren.
Für diesen Überfall möchte ich gerüstet sein. Der Ewiggrinser soll würdevoll empfangen werden. Vielleicht sollte ich ihm gar ein paar Schritte entgegengehen. Ein weißes Tüchlein schwenken als Zeichen, daß ich mich schon ergeben hab. Alsdann mag mein Tod mich auf seine knorrigen Arme laden, mich als ein schlaffes Bündel davontragen.
Aber noch darf ich ein wenig im glitzernden Strom des Lebens treiben. Noch werden meine Augen an jedem Morgen aufgetan. Mit verkrusteten Lidern begrüßen sie staunend den neuen Tag. Selbsttätig recken sich die Arme zur Dachschräge empor. Der Brustkorb dehnt sich bis zur äußersten Grenze aus. Etwas später richte ich den steifgelegenen Oberkörper auf.
Ein sachter Schwindel zwingt mich, minutenlang auf der Matratzenkante zu verweilen. Unterdessen zerkratze ich den halbkahlen Schädel. Sehe zu, wie ein schuppiger Grind zum Teppich hinabrieselt.
Dann sind die Fingerkuppen endlich bereit, zur Brille auf dem Bücherhügel vorzustoßen. Während sich die linke Hand bemüht, das mäßiggefüllte Uringefäß unter der Bettstatt hervorzuklauben. In übervorsichtiger Altmännermanier tapere ich die steile Stiege von der Schlafempore zur Wohnstube hinab. Ungewaschen, unrasiert setze ich mich an den grobgezimmerten Eichentisch.
Da hocke ich nun zermürbt und altersgrau am gewohnten Platz auf der Eckbank. Den Nacken halte ich demütig gebeugt. Brav ruhen die Hände gefaltet im Schoß. Ich atme.
Bedächtig saugt die Lunge die warme Stubenluft ein. Hält sie ein Weilchen bei sich. Stößt sie dann zischelnd zum Lippenspalt hinaus. Dasitzen und atmen. Das kann ich noch. Das fällt mir nicht schwer. Das halte ich wohl noch eine Zeit lang durch.
So kauere ich also Tag für Tag im Herrgottswinkel unter dem polierten Holzleib des Gekreuzigten und lausche hinauf. Noch herrscht Stille da oben, unterm Schädeldach. Aber aus Erfahrung weiß ich, daß bald die vertraute Stimme zubhören sein wird. Sie tönt vermutlich aus einer winzigen Kapsel hinter der Stirnwand. Ich kann mich auf ihr Erklingen verlassen. Immer noch hat sie mir zur rechten Zeit gesagt, was ich zu tun oder zu lassen habe.
Just in diesem Augenblick wird mir auch schon dringend geraten, abzulassen vom sturen Dahocken auf der Eckbank und über die Schwelle ins Freie zu treten. Willfährig tragen mich die Füße zum offenen Gatter hinab. Es sind jetzt nur noch wenige Schritte nötig, und mich verschlingt der wohltätige Forst.
Auf dem krummen Holzabfuhrweg zieht es mich vorbei an kühngewundenen Pflanzenleibern. Ich schaue nach links, den Hang hinab. Schaue nach rechts, hügelan. Am Aussichtspunkt halte ich gewohnheitsmäßig an. Lasse mich auf einem der übermoosten Baumstümpfe nieder. Sobald ich das eindeutige Signal vernehme, erhebe ich mich vom feuchten Stumpf. Kehre auf gewohnten Pfaden zur Hütte zurück.
Kaum habe ich meinen Sitz eingenommen, legen sich die Hände wiederum selbsttätig auf der rauen Tischplatte ab. Eindringliche Fragen glimmen im Hirngekröse auf. Was denn jetzt, o Herr, steigt mein besorgtes Flehen himmelwärts. Wie soll es denn weitergehen mit mir in den nächsten Stunden.