Engel exestieren nur in eurer Einbildung...

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„Glaubst du eigentlich an Schicksal?", fragte sie ihn, während sie die Narbe an ihrem Arm betrachtete. Diese große Narbe, die sie seit mehr als drei Jahren hatte. Bleich und hart war die Haut von ihrem Daumen bis zu ihrem Ellenbogen und weiter auf der Rückseite des Arms bis zur Schulter. „Nein." Er schüttelte demonstrativ den Kopf, so dass seine braunen Haare von einer Seite auf die andere flogen. „So etwas wie Schicksal gibt es nicht." Er atmete aus und eine Wolke kam aus seinem Mund. Sie beobachtete wie diese kleine Wolke immer dünner und dünner wurde und schließlich verschwand und merkte, dass ihr kalt war. Sie saßen nun schon seit Stunden hier. Das Gras auf dem sie saßen war gefroren und stach durch die Hose durch. Ihre Füße baumelten über einem Abhang, an dem es steil nach unten ging. Äste wuchsen aus der Schräge und rankten sich hoch. Schlängelten sich wie Schlangen an der Erde hoch und berührten ihre Füße. „Woher willst du das wissen?", fragte sie nach einer Weile des kalten Schweigens. Sie sah ihn nun an und musterte sein Gesicht. Die Augen hatte er auf den Abgrund gerichtet. Die Arme seitlich in den Taschen und seine Füße schwenkten hin und her. Er musste lächeln. Ein bitteres Lachen. So bitter, dass sie schaudern musste. So bitter, dass man den Schmerz bis in die Knochen fühlen konnte. „Schicksal ist der falsche Ausdruck." Jetzt sah er sie an. Seine blassen blauen Augen waren auf sie gerichtet. Er zog seine Augenbrauen zusammen und blickte auf ihre Narbe. Dann schluckte er den schmerzhaften Kloß in seinem Hals hinunter und sprach weiter. „Jeder bekommt, was er verdient. Aber wir sind selber dafür verantwortlich was wir tun. Es gibt nichts, das und sagt was wir tun sollen." Sie nickte und sah wieder in die Ferne. „Aber manchmal tun wir dumme Dinge. Unverantwortliche Dinge. Selbstsüchtig..." Er nahm ihre Hand und strich über die Narbe.- Ich bin Schuld- dachte er sich.- Wegen mir ist das alles passiert. Nur ich bin daran schuld, dass ich jetzt hier stehe. Nur ich selber. Niemand sonst-. Sie blickte auf seine Hand, die auf ihrer ruhte. „Weißt du noch wie wir uns kennen gelernt haben?", fragte sie ihn und sah zuerst zu ihm und dann auf ihre Füße. Er nickte bedächtig. „Du bist nach dem Unfall zu mir ins Krankenhaus gekommen. Obwohl du mich nicht mal kanntest." Sie lachte leise vor sich hin und dachte an den Tag des Unfalls zurück. Jenen Tag an dem sie in die Flammen gegriffen und fast ihre Hand verloren hätte. Und er dachte an den selben Tag. Den Tag an dem er fiel, weil er nicht auf sie aufpasste. Den Tag seit dem er hier war. Seit diesem Tag war sie zur Außenseiterin geworden. Keiner wollte mehr mit ihr Kontakt haben. Alle dachten sie sei verrückt, weil sie immer mit sich selbst redete. Mit niemand anderen außer mit sich selbst. Genau wie jetzt, zu diesem Zeitpunkt. „Also ich glaube an Schicksal.", sagte sie und nickte bestimmt und selbstsicher. Er musste lächeln. „Irgendetwas muss doch da sein, dass bestimmt wann wir was tun." Verlegen strich sie sich eine ihrer blonden Haarsträhnen hinters Ohr und lachte. „Und was wenn es nicht das Schicksal ist sondern etwas anderes?" Er sah seitlich an ihr hoch und atmete tief durch. Sie zitterte von der Kälte, doch er nicht. Ihm war nicht kalt. Ihm war nie kalt. Langsam zog er seine Jacke aus und legte sei über ihre Schultern. „Was sollte da sein, wenn nicht das Schicksal?", fragte sie und kuschelte sich in die Jacke. Er seufzte, denn er wusste Bescheid. Er wusste über alles Bescheid. Trotzdem zuckte er nur mit den Schultern und runzelte die Stirn. Sie zitterte immer noch von der kalten Dezemberluft und ihre Hände wurden blau. „Wir sollten gehen.", sagte er und stand auf. Bedächtig nickte sie und versuchte sich hoch zu raffen. Doch es gelang ihr nicht. Vorsichtig griff er ihr unter die Arme und zog sie hoch. Dankend nickte sie und ging vor ihm her. Sie spazierten die Straße entlang. Diese menschenleere Straße, an der nur hin und wieder ein Auto vorbeibretterte. Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen und ging langsam neben ihr her. Bereit sie aus jeder Situation zu retten. Bereit alles wieder gut zu machen. Er blickte über ihren Kopf hinweg auf die leere Straße. Sie ging Schritt für Schritt voran und ihr wurde immer kälter. Es war schon dunkel geworden, als sie an der Kreuzung ankamen. Kein Wort hatten sie geredet. Doch dann brach sie das Schweigen. „Glaubst du an Engel?", fragte sie ihn und blieb vor der Kreuzung stehen. Verlegen sah er auf den Boden und zeichnete mit dem Fuß kleine Rillen in den Kies. „Nein." Er blickte nicht hoch. Sah ihr kein einziges Mal in die Augen. Doch sie sah ihn an. Schnappte einen letzten Blick von ihm auf und wusste nicht, dass sie ihn nie wieder sehen würde. Dann sah sie auf die Ampel die immer noch rot war und redete weiter: „ Ich glaube schon, dass es so etwas wie Engel gibt." Sie sprach sehr langsam. Fast schon eingefroren mit heiserer Stimme. Er atmete tief aus und brachte es zustande, sie noch einmal anzusehen. Auch sie blickte noch einmal zu ihm. Doch alles was sie sah waren seine Augen. Diese blassen blauen Augen. Diese Augen, die fast schon weiß waren, so hell waren sie. Und dann lief sie über die Straße und übersah das Auto. Autoreifen quietschten laut auf und man hörte ihren schrillen Schrei. Ihre Blicke trennten sich, als sie nach hinten geschleudert wurde und mit dem Kopf auf den Asphalt schlug. Leute eilten ihr zur Hilfe, doch er stand immer noch dort und sah mit seinen weißen Augen zu ihrem leblosen Körper. Er hatte wieder nicht Acht gegeben. Keiner konnte ihn sehen. Keiner hatte ihn je sehen können.

Seine Flügel streiften am Boden als er zu ihr laufen wollte und endgültig verschwand.




Wenn Engel fallen...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt